Kein Zweifel: ich kenne dieses Schloss nicht.

Ich hätte es mir gemerkt.

Und als kleines Mädchen hätte ich mir nichts mehr gewünscht, als es besuchen zu können.

Dieses Bild zeigt eine andere Zeit. Ich kann nicht genau einordnen, in welche Epoche es gehört und wann die Szene spielt, aber es ist kein modernes Motiv.

Als ich jünger war, hatte ich mir immer Märchen dazu ausgedacht. Und ich hatte die Hauptrolle gespielt. Eine tapfere Ritterprinzessin, die ihr Volk beschützte und auf den Prinzen wartete, der auf einem wunderschönen, weißen Pferd angeritten kam.

Schon mit sieben hatte ich genau gewusst, wie mein Brautkleid aussehen würde.

Aber eigentlich habe ich gar keine Zeit, groß über all das nachzudenken.

Mit einem Schmunzeln auf den Lippen staube ich die schmale Fensterbank ab und nehme die schmutzige Gardine herunter.

Die Katze maunzt unzufrieden und legt sich müde in den warmen Strahl der untergehenden Sonne, den das kleine, schiefe Dachfenster nun endlich freigibt.

Aus der Schublade einer alten Kommode fische ich etliche Briefe und Postkarten aus den frühen Vierzigern, ich stoße auf ein paar alte Tagebücher von Ellis und einen hübschen, verzierten Kamm, der allerdings zu fragil und zierlich ist, um sich damit die Haare zu bürsten. Vermutlich ein Schmuckstück. Um eine Hochsteckfrisur zu verzieren oder so. Mir fällt eine Süßwasser-Perlenkette in die Hände und ein Fotoapparat, der so alt ist, dass er prima in ein Museum passen könnte.

All diese Dinge lege ich behutsam in den großen, braunen Pappkarton, in dem mir vor kurzem noch von Amazon Schuhe geliefert worden waren.

Ich seufze.

Nach all der langen Zeit haben diese Gegenstände es nicht verdient, aus ihrem Zuhause gerissen und auf einem Flohmarkt verkauft zu werden. Sie gehören doch in dieses Haus, sie sind die Seele dieses Hauses und sie machen seinen Charakter aus.

Tante Ellis hätte sich bestimmt gewünscht, dass eine meiner Cousinen oder ich eines Tages ihr wunderschönes Herrenhaus in Irland ziehen, und sie hat es uns auch vererbt, aber sie war nunmal ziemlich hoch verschuldet mit diesem Anwesen. Es würde uns allen finanziell das Genick brechen.

Irgendein reicher Ekel wird jetzt alles hier herausreißen, modernisieren und seine Bonzenkarren dort parken, wo seit meiner Kindheit Walderdbeeren und Himbeeren wachsen. Wo Ellis Blumen- und Gemüsegarten war, wird ein überdachter Parkplatz entstehen. Zwar gibt es zu alldem noch keine konkreten Pläne, aber so läuft es doch im Endeffekt immer. Ein wunderbares Stück Familiengeschichte wird verkauft, an einen Teufel.

"Fair.", sagt meine Cousine Lily hinter mir. "Wir müssen uns beeilen. Wenn wir heute nicht fertig werden, bekommen wir Probleme mit dem Käufer."

Sie hält ein schweres, weißes Tuch in den Händen, wohl dazu da, um das Bild darin zu verhüllen.

Seufzend nehme ich es ihr ab. "Schon gut, ich weiß es doch. Du kannst den anderen sagen, dass ich in fünf Minuten mit dem Dachboden fertig bin."

Lily lächelt deprimiert und nickt. Scheinbar geht es ihr ähnlich wie mir, auch, wenn sie nie so viel Zeit in Ellis' Haus verbracht hat wie ich als Mädchen.

Sie packt den großen Karton mit der Violine und dem anderen Gerümpel und macht sich auf den Weg zurück nach unten, wo meine Tante Mable schon wartet und gemeinsam mit ihrem Sohn Gregory Stück für Stück die Kisten in den großen, weißen Umzugswagen schichtet.

Ich bin mit dem Bild allein.

Kurz habe ich den Gedanken, dass es so unglaublich einfach wäre, das Bild jetzt im Chaos verschwinden zu lassen und mit nach Hause zu nehmen.

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