Kapitel 1

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Kapitel 1

Fair:

Hinter jedem Bild, das ein Künstler malt, steckt eine Geschichte. Manchmal wird einfach etwas auf eine Leinwand gepinselt, ohne, dass es eine tiefere Bedeutung gibt, aber meistens denkt sich ein Mensch etwas dabei, wenn er malt.

Es gibt Spielraum für Interpretationen in jedem Gemälde.

Vielleicht hat der Künstler die Farbe Blau gewählt, weil sie ihn beruhigt; irgendein Betrachter empfindet diese jedoch als eine Farbe, die ihn depressiv stimmt.

Womöglich findet jemand, der gerade ein Portrait gezeichnet hat, dass er soeben den schönsten Menschen der Welt skizzieren durfte; ein anderer Mensch findet die verewigte Person unästhetisch oder nichtssagend.

Das ist wohl auch der Grund, weswegen man sich über Kunst streiten kann, bis die Fetzen fliegen. Ich ziehe es vor, deswegen nicht zu diskutieren.

Bei meiner Großtante Ellis jedoch hing seit jeher ein großes, prunkvoll eingerahmtes Bild auf dem Dachboden, bei dem ich zur Furie werde, wenn es jemand hässlich nennt.

Ich habe als Kind Stunden davor verbracht, und jedes Mal, wenn ich sie an einem Wochenende besuchen kam, hatte ich das Gefühl, dass ich etwas neues auf dem Bild entdecken konnte. Dass etwas dazugekommen war. Und das Bild eine komplett eigene Welt war, auf die niemand einen Einfluss haben konnte.

Wenn alles um mich herum zusammenbrach, sei es, weil ich durch die Abschlussprüfung gerasselt bin, mein erster Freund mit meiner besten Freundin durchgebrannt war oder ich eine tiefe Schramme in mein nagelneues Auto gefahren hatte- die Welt in Ölfarbe blieb dieselbe und sie blieb heil.

Als ich sechzehn war, habe ich Tante Ellis einmal gefragt, ob sie manchmal etwas zum Bild dazu malt. Aber sie hatte nur gelacht, und ich hatte eigentlich auch gewusst, dass sie gar nicht malen konnte, denn künstlerisches Talent besaß unsere Familie nicht einmal im Ansatz.

Jahre vergingen.

Ich vergaß das Bild.

Großtante Ellis starb.

Und nun sitze ich wieder auf dem Dachboden, umgeben von alten Kleidern, einer vermoderten Violine, einem zerbrochenen Spiegel mit silbernem Rahmen, drei angelaufenen Goldringen, einer löchrigen Socke und einer alten, zähen Katze, die mindestens genauso alt sein muss wie ich, und soll entscheiden, welche von Großtante Ellis' Dingen ich wegwerfen soll und welche noch einen Wert haben.

Dieses Bild...

Ich würde nicht einmal den Gedanken ertragen, es zu entsorgen oder zu verkaufen.

Wie von allein greife ich zum großen, buschigen Staubwedel und fahre damit über den verschnörkelten Rahmen. Der allein muss sündhaft teuer gewesen sein, viel zu teuer dafür, dass dieses Bild über die Jahre auf einem Dachboden vor sich hin gammelt.

Tante Ellis hat mir nie erzählt, wer es gemalt hat oder wie alt es tatsächlich war.

"Kind.", hatte sie nur immer gesagt. "Dieses Gemälde ist älter als Zeus und die Pyramiden von Gizeh zusammen. Du solltest dir nicht kontinuierlich den Kopf darüber zerbrechen."

Mich würde so sehr interessieren, ob sie mehr darüber wusste, als sie immer zugegeben hatte. Denn wenn sie sich wirklich so wenig darum scherte, wieso hängt es dann bis heute auf ihrem Dachboden? Warum wollte sie es nie weggeben, wenn ihr Herz nicht daran hing?

Ich lasse den Blick über den tiefblauen Bach streifen, die wunderschöne, sattgrüne Wiese und den undurchdringbaren, mysteriösen Wald. Der Himmel zeigt eine gemischte Färbung, die Sonne geht dort wohl entweder auf oder unter. Ich bin nicht sicher, ob mir die Stadt hinter dem Wald zum ersten mal auffällt oder ob ich sie nur vergessen habe. Aber was ich vorher sicher noch nie gesehen habe, ist das verwinkelte Schloss auf einer kleinen Anhöhe. Im Gegensatz zu allen anderen Gebäuden ist es pechschwarz- die Fassade glitzert beinahe im faden Licht. Die spitzen Dächer der Türme sind scharlachrot.

Hidden behindWhere stories live. Discover now