Abends, 29. September

0 0 0
                                    

Wie damals strich ich über den Rücken des Buches und öffnete es daraufhin. Die kleine Postkarte viel heraus und ich legte sie zurück zwischen den Einband und die erste Seite. Der Text auf der Rückseite klang folgendermaßen:

Liebste Saga,
Ich möchte dir dieses Buch mitgeben, weil ich nicht weiß wann wir uns das nächste Mal wiedersehen werden. In letzter Zeit singst du sehr viel und hast die Abende, an denen wir am Kamin Gitarre geübt haben sehr genossen. Vielleicht findest du hier Platz für einige Lieder oder Fotos. Gib darauf und auf dich selbst Acht. In Liebe, Papa

Ich blätterte die erste Seite um, diese hatte ich unbeschrieben gelassen. Auf der zweiten hatte ich tatsächlich einen Songtext niedergeschrieben, aber es war kein eigener.

Boulevard of Broken Dreams
by Green Day

I walk a lonely road,
The only one that I have ever known.
Don't know where it goes,
But it's only me, and I walk alone.

I walk this empty street,
On the boulevard of broken dreams.
Where the city sleeps,
And I'm the only one, I walk alone.

My shadow's the only one that walks beside me,
My shallow heart's the only thing that's beating.
Sometimes I wish someone out there will find me,
Till then I walk alone.

Der Song weckte jedes Mal viele Emotionen in mir, hauptsächlich fühlte ich mich aber sehr melancholisch, wenn ich ihn hörte, oder die Melodie auf Gitarre spielte und dazu sang. Damals im alten Haus war ich als kleines Mädchen dazu immer tanzend durch die Küche gesprungen. Ich hatte meinem Vater oft beim Kochen geholfen. Ich blätterte die Seite um und es folgten viele Bilder.
Das erste zeigte unser altes, großes, wunderschönes Haus. Damals lebten wir dort noch alle zusammen, es war das Haus gewesen, in dem bereits mein Opa aufgewachsen war. Es hatte überall weiß gerahmte Fenster und passende Läden in tiefblau. Die Veranda hatte mein Vater mit meinem Opa zusammen aus Holz selbst gebaut. Den ganzen Frühling über hatten sie daran gearbeitet und als Einweihung hatten wir am ersten Sommertag ein großes Abendessen mit Grill veranstaltet. Sogar einige aus der Nachbarschaft waren gekommen und wir alle hatten den Abend zusammen verbracht. Das Haus lag nahe am Wasser und war umgeben von vielen Waldgrundstücken. Wir hatten kaum Nachbarn, nur einige kleinere Häuser, die im Umkreis standen. Aber wir genossen die Ruhe und die Menschen, die wir um uns herumhatten. Der nächste Ort Västervik war einige Meilen entfernt, doch auch dort sammelten wir einige schöne Momente und Erfahrungen. Eine Schule für uns hätte es ebenfalls gegeben, aber Gven und ich waren immer von Zuhause unterrichtet worden. Meine Tante Betha hatte den Beruf Lehrerin erlernt, doch kündigte ihre Arbeit schon weit vor der Zeit ihrer Rente. Durch einen schweren Autounfall war sie ihr folgendes Leben immer an den Rollstuhl gefesselt gewesen und es hatte sie so mitgerissen, dass sie es nicht mehr hätte ertragen können, vor einer gesamten Schulklasse zu unterrichten. Sie lebte zusammen mit meinem Onkel Frans in einem kleineren Häuschen nicht mehr als zweihundert Fuß von unserem damaligen Zuhause entfernt. Somit war es kein weiter Schulweg für Gven und mich und wir lernten mit viel Freude und Unterhaltung alles nötige Wissen von Betha. Das zweite Foto zeigte sie im Rollstuhl mit einem Ast in der Hand. Ich stand daneben und hatte ebenfalls einen ähnlichen Zweig in den Händen. Betha ging sehr häufig mit uns raus in die Natur, wir waren nur so umgeben von verschiedenen Pflanzen und Tieren und sie brachte uns auf jedem kleinen Spaziergang etwas Neues bei. Auch wenn unsere Ausflüge aufgrund ihrer Behinderung begrenzt blieben, ging sie immer mit Leib und Seele an die Sache heran.
Die weiteren Fotos waren Momente, zufällig und ohne Reihenfolge aus meinem Leben gegriffen. Eins, auf dem Gven und ich mit Latzhosen auf der Wiese vor unserem Haus lagen und Gänseblümchen pflückten. Ein anderes zeigte meinen Opa beim Holzhacken. Auf einem weiteren saß ich mit Hanne auf einer von vielen Treppenstufen. Ich erinnerte mich sehr gut an den Tag, wir waren in Västervik Eis essen gewesen.

Alle meine Erinnerungen an diesen Ort und die Zeit waren traumhaft, nur leider waren sie begrenzt. Mein Vater griff immer häufiger nach Alkohol und wurde schnell abhängig. Hanne hatte sich oft mit ihm gestritten. Ich erinnerte mich immer noch an den einen Abend, an dem ich nicht hatte schlafen können. Leise war ich einige Stufen der alten Holztreppe hinunter getapst, als ich meine Eltern schimpfen hörte. Er war eigentlich nie der gewesen, der handgreiflich wurde, aber an diesem Abend wurde ich selbst Zeugin davon, wie mein Vater meine Mutter schlug. Ich glaube das war der ausschlaggebende Punkt für Hanne gewesen, zu verschwinden. Vielleicht hatte sie gedacht, dass alles besser werden würde - ohne Papa. Ich kann ihr die Entscheidung auch nicht übelnehmen, denn ich denke, ich hätte gleichermaßen gehandelt. Doch die Situation jetzt gerade, war ein reinstes Chaos. Hier saß ich nun, an einem verregneten Freitagabend, alleine in meinem Bett und schweifte in Erinnerungen. Ich führte mein Leben in einer kleinen Wohnung mit meinem großen Bruder und meiner Mutter, die ich beide kaum zu Gesicht bekam. Hätte mich jemand gefragt ob ich so glücklich sei, wäre es eine Lüge gewesen mit Ja zu antworten.
Ich starrte lange auf die letzten Bilder, dann klappte ich das Buch wieder zu. Es war mittlerweile fast voll. Über die Jahre hatte ich es mit Songtexten, Fotos, Gedanken und Gefühlen gefüllt. Die kleine Lasche hielt die Seiten nur mühsam als Ganzes zusammen. Ich legte es behutsam wieder zurück unter mein Kopfkissen, dann rappelte ich mich auf. Aus der Küche holte ich mir die Packung mit Cookie-Eiscreme und einen großen Löffel. Damit stapfte ich wieder in mein Bett. Ich machte mir Musik an und aß mein Eis, nebenbei war ich noch ein wenig am Laptop. Die Deckenlampe hatte ich bereits ausgeschaltet, stattdessen brannte die Lichterkette über meinem Bett. Allmählich wurde ich etwas müde, also ging ich ins Bad um mich fertig zu machen. Ich war gerade dabei mir die Zähne zu putzen, als ich Hanne im Flur hörte. Eigentlich wollte ich gar nicht mit ihr reden, doch ich entschied mich es wenigstens zu versuchen. Ich spülte schnell meinen Mund mit Wasser aus und schloss die Tür des Badezimmers auf. Langsam tapste ich durch den Flur. Hanne stand an die Küchenzeile gelehnt und hielt ein Glas Wasser in der Hand. „Hallo", grüßte ich sie leise und blieb am Anfang der Küche stehen. „Schon mal was davon gehört auf Nachrichten zu antworten?", sagte sie in angebissenem Ton und setzte das Glas auf der Arbeitsplatte ab. Ihr Gesicht sah komplett übermüdet aus und sie stand völlig erschöpft da. Ich blickte schnell auf meine Füße und wieder nach oben. Dann murmelte ich vor mich hin: „Hab vergessen zu schreiben." Natürlich hatte ich nicht vergessen ihr zu schreiben, ich hatte lediglich die Nase voll von ihrer Rolle als „Mutter". Sie gab ein keuchendes Lachen von sich. „Vergessen also, genau wie das Einkaufen?" Ich spürte wie die Lava in mir zu brodeln begann. „Was bin ich eigentlich? Deine persönliche Hausfrau, weil du nichts mehr auf die Reihe bekommst? Vergnügst dich fein jede Nacht mit deinem Liebsten und ich kann schauen wie ich auskomme! Du bist ja gar nicht mehr zuhause. Am besten kann ich gleich verschwinden, denn ich kümmer' mich sowohl um mich selbst als auch um alles andere!" Hannes Miene verdunkelte sich. In einem Satz stand sie direkt vor mir und packte mich am Kragen. „Nun werd' mal nicht gleich frech kleines Fräulein! Ich arbeite mir hier den Arsch ab, um uns ein möglichst angenehmes Leben zu ermöglichen und du schaffst es nicht auch was für den Haushalt zu tun, wenn ich nicht da bin?", zischte sie mich an und ihre Augen funkelten. Die Lava schoss aus mir heraus. „Ein angenehmes Leben?!? Du hast mir mein ganzes Leben zur Hölle gemacht! Ich hätte einfach bei Papa bleiben können! Mit ihm hab ich mich sowieso viel besser verstanden! Er hat mir wenigstens etwas Aufmerksamkeit geschenkt im Gegensatz zu dir. Du bist nur auf Arbeit und wenn nicht dann machst du dir ein paar schöne Stündchen mit Sven! Hast du dir mal überlegt, dass ich mich vielleicht einsam fühle? Hab ich je nur eine Freundin mitgebracht? Nein, denn ich hab hier keine! Ich hab keinen hier in dieser verdammten Scheißstadt!" Hanne schien eine Sekunde inne zu halten, dann wurde sie plötzlich gefährlich leise. Immer fester fasste sie mich am Kragen. „Nun hör mir mal gut zu, wenn du nicht gewaltig aufpasst, wie du mit mir redest, wird dir das bald mächtig Leid tun. Nur weil du kleine Göre nicht deine Aufmerksamkeit bekommst, heißt das noch lange nicht, dass du dir hier alles erlauben kannst." Es reichte mir. Mit einem Mal drückte ich sie von mir weg. „Ich bin keine gottverdammte Göre!", schrie ich sie an. Ehe ich mich versah hatte Hanne ausgeholt. Ein ziehender Schmerz durchzog meine Wange. Entgeistert hielt ich mir meine Hand an die Stelle, wo sie mich geschlagen hatte. Ich schwieg. Dann drehte ich mich um und ging auf mein Zimmer.

To już koniec opublikowanych części.

⏰ Ostatnio Aktualizowane: Jan 13, 2019 ⏰

Dodaj to dzieło do Biblioteki, aby dostawać powiadomienia o nowych częściach!

SAGA Opowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz