Abends, 29. September

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Erschöpft setzte ich einen Fuß vor den Anderen. Meine Socken hinterließen nasse Flecken auf den alten Fußbodendielen. Es hatte die letzten Tage wie aus Eimern gegossen und alles an meinem Körper triefte. Ich drückte meine Haare vorsichtig aus, weshalb etwas Regenwasser auf den Boden tropfte. Nichts kümmernd wischte ich grob mit meinem rechten Fuß über die Pfütze. Die Lichter in Küche und Wohnzimmer waren gedimmt und ich hatte bis jetzt niemanden gehört. Das war für mich mittlerweile aber auch nichts Neues mehr. Hanne, so nannte ich meine Mutter, war so gut wie immer arbeiten und wenn sie mal nicht arbeitete, dann war sie müde, oder gestresst von der Arbeit. Manchmal fand man sie auch bei einem Typen auf, seit einigen Monaten lief da was. Er unterrichtete angeblich als Professor und war einige Jahre jünger als Hanne, mehr wusste ich nicht über ihn. Ich hatte ihn sowieso nur zwei Mal im Vorbeigehen gesehen, sonst war Hanne immer nur bei ihm. Aber was beklagte ich mich, wer wollte denn seiner Affäre auch schon die Kinder auf den Hals hetzen? Dabei wären wir dann auch bei meinem Bruder - Gven. Er war drei Jahre älter als ich und wohnte immer noch bei Hanne. Wäre ich seine Mutter, hätte ich ihn wahrscheinlich längst rausgeworfen, aber er ruhte sich ganz schön auf „Hotel Mama" aus. Ab und zu machte er mal ein Praktikum und verdiente sich ein bisschen Kohle als Aushilfe in der Bar seines Kumpels. Aber die vertickte er direkt wieder für seine Spiele, Alkohol und Kippen. Über Tag bekam man ihn selten zu Gesicht, er schlief meistens, geschweige denn er war überhaupt nach hause gekommen. Nachts saß er wie gefesselt vor seinem Bildschirm oder war unterwegs zusammen mit seinen Jungs. Also, mein soziales Umfeld was die Familie anging hielt sich wirklich in Grenzen.
Ich öffnete den Kühlschrank, um mir etwas zu Essen zu nehmen. Ein wenig hatte ich darauf gehofft, dass ich ausnahmsweise etwas Brauchbares finden würde, aber Fehlanzeige. Hanne war mal wieder nicht einkaufen gewesen. Statt meinen Hunger zu stillen, trank ich stattdessen das Bier von Gven leer und schlurfte in mein Zimmer. Ich kramte in der obersten Schublade der blauen Holzkommode, zum Glück fand ich noch ein wenig Kleingeld. Ich verstaute es in meiner schwarzen Bauchtasche und stattete Gven, auf dem Rückweg zum Flur, noch einen kurzen Besuch ab. Er saß wie erwartet vor seinem PC und würdigte mich keines Blickes. „Wo ist Hanne?", fragte ich. Das mürrische „Beim Prof." reichte, um mir ein Bild von dem unsympathischen Typen und Hanne, bei ihm zuhause, zu machen. Im Flur schlüpfte ich wieder in meine Sneaker und schnappte mir den Hausschlüssel aus der Jackentasche. Dann eilte ich mit meinem Skateboard unter dem Arm die Stufen des Treppenhauses hinunter. Der Regen war weniger geworden, aber es hingen noch immer tiefe dunkle Wolken über den Häusern der Stadt. Es waren kaum Menschen unterwegs, nur viele Autos mit hellen Scheinwerfen, die an mir vorbeifuhren. Ich setzte das Skateboard auf den asphaltierten Weg und fuhr schnellen Tempos die Hauptstraße entlang. Nach ein paar Kreuzungen erreichte ich den Spätkauf. Ansonsten hatte in der Umgebung um diese Uhrzeit nichts mehr geöffnet. Ich sprang gekonnt ab und drückte die Glastür des Geschäfts nach innen auf. Das kleine Glöckchen bimmelte, als ich eintrat und aus dem Hinterzimmer, das mit einem Patchwork-Vorhang von dem Tresen mit Kasse getrennt war, kam Folke. Ich war ihm längst bekannt, da es nicht selten vorkam, dass ich spät noch einmal vorbeischaute. „Saga! Was darf's denn heute sein?", fragte er freundlich. „Ach, mal wieder das Übliche", erwiderte ich und schlenderte auf das Regal mit Konserven zu, „Ravioli a la Saga". Folke gab ein müdes Lachen von sich. Er hatte wahrscheinlich einen anstrengenden Tag gehabt. Ich griff nach einer der Raviolidosen, die im Regal auf der Höhe meiner Stirn standen und ging damit zur Kasse. Folke scannte die Konserve ein und ich drückte ihm mein Kleingeld in die Hand. „Hat Hanne es wieder nicht mit dem Einkauf geschafft?", fragte er und fischte ein Fünfcent-Stück aus der Kasse. „Du ich glaube mittlerweile ist es ihr einfach egal, sie ist doch sowieso so gut wie nie zuhause", antwortete ich ihm. „Übernachtet sie auch bei diesem Sven?" Ich steckte das Rückgeld in den kleinen Spendentopf auf dem Tresen und zuckte die Schultern. „Ja, vor allem an den Wochenenden. Manchmal höre ich aber auch wie sie um 3 Uhr nachts den Flur entlang in ihr Schlafzimmer taumelt." Folke schüttelte verständnislos den Kopf. „Ach Kindchen, meinst du ich sollte mal wieder mit ihr sprechen?" Ich seufzte belustigt. „Das ist lieb gemeint, aber ich denke da ist nichts zu machen." Folke nickte kaum merklich. Ich griff mir die Konservendose und machte auf dem Absatz kehrt, um zu gehen. „Saga", meinte Folke. Ich hob den Kopf und drehte mich noch einmal zu ihm um. Er deutete auf die Truhe mit Eis und lächelte mir zu. Eigentlich setzte ich an zu verneinen, aber ein Eis konnte mir im Moment wirklich nicht schaden. Ich schob also die Truhe auf und nahm mir einen Pappbecher mit Cookie-Eiscreme heraus. Dankend warf ich ihm einen letzten Blick zu, dann verschwand ich wieder aus dem kleinen Laden. Mittlerweile war es wirklich dunkel draußen geworden und die Straßenlaternen hatten sich eingeschaltet. Durch den Wind fröstelte ich etwas, was mich dazu brachte noch ein wenig schneller zu fahren.

SAGA Where stories live. Discover now