Drei Tage Verzweiflung

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Das Mädchen starrte angsterfüllt auf die Klinke der Tür, die sie im Dunkel des wenigen Lichts, dass durch das winzige Gitterfenster fiel, nur halb erkennen konnte. Jeden Moment sollte sie nach unten gedrückt werden und den Weg für den eisigen Mann öffnen...

Er hielt sie jetzt schon seit mehreren Tagen (oder auch Monaten? Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren...) in diesem düsteren Wagen fest, sie spürte das Ruckeln und hörte das gedämpfte Schnauben des Pferdes. Nur den Mann, den nahm sie nicht wahr, denn er bewegte sich absolut lautlos, wie eine Schneeflocke die zu Boden sinkt. Immerhin brachte er ihr Essen, aber sie fragte sich, wie lange noch? Am liebsten wäre sie jetzt zu Hause, bei ihrem ruhigem Vater und ihrer Puppe, und bei ihrem... Bruder? Nein, bei ihm nicht, er hatte sie verkauft, verkauft für widerliches Geld, wie man das mit irgendeinem Tier machen würde. Die Wut wallte wieder in ihr auf, diese heiße, alle Vernunft verschlingende Wut. Sie könnte toben vor Hass...Sie ballte die Fäuste, und sie presste die Kiefer zusammen, aber die Wut wogte trotzdem in ihr. Mit einem Schrei, der wegen ihrem Alter noch nicht so beeindruckend klang wie sie gern gewollt hätte, rammte sie die Tür, wobei ein schwerer, dröhnender Ton durch den gesamen Wagen vibrierte. Schmerz schoss in ihren Arm, aber sie stellte nach einem kurzen Moment überrascht fest, dass die Luke, diese schwere Eisenluke, eine mehr als handtiefe Delle hatte. Mit zittrigen Fingern fuhr sie darüber, bedächtig, als könne sie urplötzlich zuschnappen. Das hatte sie selbst angerichtet? Vorher war es noch nicht da gewesen, dessen war sie sich sicher. Es gab nur einen Weg, das nachzuprüfen: noch einmal holte sie tief Luft, spannte sich an, holte Schwung und -fiel kopfüber in den Schnee. Verzweifelt versuchte sie zu atmen, aber stattdessen füllte eisiges Schmelzwasser ihren Mund. Sie strampelte mit den Beinen und versuchte, sich zu befreien, aber sie spürte wie sie schwächer wurde. Kälte drang von überall her auf sie ein, lähmte sie, raubte ihr Kraft und Mut. Gerade, als sie aufgeben wollte, und sie den Kampf zu verlieRen schien, packte sie eine starke Hand am Kragen und zog sie mit einem kräftigem Ruck heraus. Dann wurde sie mehr als unsanft auf den Boden gesetzt, wo sie hustend, spuckend und zitternd liegen blieb. Ihr war schwindelig, alles schwankte, ihre Welt war aus dem Lot geraten. Die kalte Stimme zischte sie an, wütend und grausam: "Mach so etwas nie wieder! Hörst du? Das nächste Mal werde ich dich nicht mehr rausziehen. Komm jetzt, sonst bleibst du hier."

Das Aufstemmen auf ihre steifen Beine raubte ihr weitere kostbare Kraft, aber sie zwang sich. Natürlich folgte sie ihm widerstandslos mit weichen Knien durch den wirbelnden Schnee, den sie erst jetzt richtig wahrnahm und bei dem sie kaum einen Meter weit sehen konnte. Den Wagen mit der offenen Lucke ließen sie einsam auf einer Art gepflasterten Platz zurück, der schon bald in dem weißen Treiben verschwand, zusammen mit der dicken Schicht Schnee, in die sie gestürzt war. Ihre Augen waren auf die Silhouette des Mannes vor ihr fixiert, und sie bibberte und wankte eher, als das sie lief, wobei ihr ihr Mut auch nicht richtig helfen konnte, er war fast gänzlich verschwunden... Sie fühlte sich hohl und kalt, der drohende Tod schwebte noch über ihr wie ein scharfes Beil, zum Schlag erhoben. Sie würde niemals wieder vergessen, wie leicht man sterben konnte, nahm sie sich vor. Niemals.

*

Neta wachte erst auf, als die ersten feinen Strahlen der Morgensonne über ihr Gesicht strichen. Verschlafen blinzelte sie in das Licht und gähnte, dann streckte sie sich ausgiebig -und stieß mit dem Arm an rissiges Holz. Sie drehte den Kopf, begleitet von leisem Blätterrascheln. Überrascht sah sie den weißen Stamm an, dann ihre Hand, die auf der Rinde ruhte, und mit einem Schlag wurde ihr wieder klar, wo sie war und was passiert war. Das verkohlte Waldstück, die kalten Flammen, der Krater und die Köpfe, die Trauer und schließlich das Biest...

Plötzlich ganz hektisch spähte sie nach unten und -atmete erleichtert aus. Keine Spur mehr von dem Ungeheuer, nicht einmal zerstörte oder verbrannte Bäume, so sehr sie sich auch reckte, um etwas verdächtiges zu erspähen. Anscheinend war es verschwunden. Damit war das größte Problem vom Tisch, aber ein weiteres musste auch noch gelöst werden: Sie saß hier oben fest, sieben Mannslängen über dem mit Laub bedeckten Boden, im festen Griff einer Weißeiche, die keine Anstalten machte, sie herunterzulassen, geschweige denn sich überhaupt zu bewegen. Das war nicht zu übersehen. Kurzerhand stemmte sie sich, ohne nachzudenken, gegen das feine Geäst und die samtigen hellgrünen Blätter, was ein Fehler war. Sofort schnellte der seltsam verkeilte Ast zurück und gab Neta frei. Kurz befand sie sich im freien Fall, dann krachte sie in die ersten kleinen Ästchen. Ihr Gesicht wurde schmerzhaft von einem Ast geschrammt, der einen rötlichen Striemen hinterließ, und weitere zerkratzten Arme und Beine. Keiner vermochte ihr Gewicht zu tragen, aber sie bremsten sie ein wenig ab. Nach einer gefühlten quälenden Ewigkeit, die jedoch nur wenige Sekunden gedauert hatte, traf sie mit einem dumpfen Knall auf dem Boden auf. Zwar dämpfte das Laub ihren Aufprall, aber trotzdem tat ihr jeder einzelne Knochen in ihrem Körper weh. Stöhnend und auch ein wenig fluchend erhob sie sich nach einer kleinen Weile, in der sie sich selbst für ihre Dummheit schalt, langsam, und humpelte los, nachdem sie sich ein bisschen gesammelt hatte. Das Rauschen der Bäume um sie herum ignorierte sie geflissentlich. Während sie jedochso durch den Wald zwischen Lichtstrahlen und Baumstämmen dahinschlurfte, fing sie an, über das Geschehen nachzudenken. Mehr als einige Fragen drängten sich ihr auf, unter anderem auch die, weshalb diese junge Familie hatte sterben müssen. Warum? Es ergab alles keinen Sinn... außerdem musste ein Mensch vorher noch da gewesen sein, denn ein Tier konnte schlecht Köpfe auf Pfosten stecken. Und er musste von dem Ungeheuer akzeptiert worden sein oder es sogar kontrollieren...

Die BaumflüsterinWhere stories live. Discover now