Erinnerungen

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Sie war nicht dabei, als ihr Vater ihr Todesurteil aussprach. Aber das hätte auch nichts geändert, rein gar nichts. Stattdessen saß sie hinter dem Haus und sprach mit den Bäumen.

Doch nicht wie man mit einem Tier spricht, nicht distanziert, wie wenn man weiß, dass der Zuhörer einen nicht versteht. Nein, sie erzählte den Bäumen von ihrem Leben, und die Bäume hörten ihr zu, große, sanfte Riesen. Das Rauschen war für Neta wie Worte, erfüllte sie mit innerer Freude.

Das kleine Mädchen in dem braunen Kleidchen erzählte den uralten Bäumen begeistert von der wunderschönen Strohpuppe, die sie von ihrem großen Bruder bekommen, 'Miara' genannt und mit der sie den ganzen Tag gespielt hatte. Sie erzählte ihnen auch von den dunklen Fremden, die vor ein paar Stunden in ihrem Heim angekommen waren und jetzt mit ihrem Vater sprachen. Sie waren mit seltsam schweren, hart aussehenden Gewändern bekleidet und trugen merkwürdig gerade, lange Stöcke in den Händen, die das Licht zurück warfen. Neta mochte sie nicht, sie rochen nach Feuer und Schmerz, verbreiteten das Gefühlt von Tod und Hass.

Als die Bäume das hörten, verstärkte sich das Rascheln ihrer Blätter, und ein Raunen und Wispern erhob sich. Lauf! Lauf weg, kleiner Schössling! Diese Männer sind böse, schlimmes wird geschehen, wenn du bleibst. Lauf!

Doch Neta hörte nicht auf die Bäume, sie wollte nicht gehen, sie wollte lieber zu ihrem großen Bruder, er würde sie beschützen. Da war sie sich sicher. Sie wollte zu ihm und lief ihm, durch ein paar Büsche brechend, entgegen, als er auf die grob zusammengezimmerte Terrasse ihrer kleinen Hütte trat. Sie bemerkte die Härte in seinen Augen nicht, als sie sich um sein Bein warf und es liebevoll umarmte. Er löste nur sanft ihren Griff, drückte ihr ihre Puppe in die Hand, die sie sofort fest an sich kuschelte, hob sie hoch und rief dann mit lauter Stimme: " Hier ist sie, Vater! Bei mir."

Aus dem dunkel gähnenden Eingang des Hauses kam ihnen Netas Vater entgegen und er sah aus, als lasteten alle Sorgen der Welt auf seinen Schultern. Neta betrachtete ihn mit großen Augen. Er tat ihr leid, und sie hätte ihn auch gefragt was denn los sei, wenn nicht hinter seinem Rücken die unheimlichen Männer gestanden hätten. Eine Aura von Gefühlslosigkeit umgab sie. Das Mädchen starrte sie erst an, dann vergrub es ängstlich ihren Kopf in der Schulter seines Bruders.

" Na, na, nicht so schüchtern! Du wirst uns schon noch kennenlernen." Die Stimme war tief, monoton und ließ die eigentlich warmen Windböen eisig wirken. Behandschuhte Finger packten ihr im Vergleich winziges Handgelenk und zwangen sie mühelos, sich herumzudrehen. Die Gestalt, die sie nun wohl oder übel anschauen musste, trug einen funkelnden Helm, mit langen Hörnern, die nach hinten abstanden. Die Dunkelheit hinter dem Sehschlitz war undurchdringlich und kalt, schien alles Glück in ihr aufzusaugen und nur Angst in der Leere zurückzulassen. Neta schloss die Augen, um das Ungeheuer nicht mehr länger ansehen zu müssen. Ein eisiges Lachen ertönte, kurz und freudlos. "Nun, sie ist nicht wahnsinnig geworden, das ist ein gutes Zeichen." Jeder hier außer Neta wusste, was 'gut' bedeutete.

Der dunkle Krieger wandte sich an den Vater, der, wenn möglich, noch blasser als vorher geworden war. Er holte ein kleines Stoffsäckchen hervor, in dem es verheißungsvoll klingelte. Er bot es Netas Vater an, aber bevor der etwas sagen konnte, ließ ihr Bruder vernehmen: " Ich nehme es, Vater, du brauchst Ruhe, ich kümmere mich um alles." Falls der Vater entsprechen wollte, war er zu kraftlos dazu.

Nun ging der große Bruder mit Neta im Arm zu der Vorderseite der Hütte. Die Fremden begleiteten ihn. Beim Eingang setzte er Neta ab und wandte sich an die Krieger :" Ihr könnt sie jetzt mitnehmen, die Entschädigung habe ich ja schon. "Also verstehen wir uns." Man sah es zwar nicht, aber Neta wusste, dass der Fremde böse lächelte. Neta sah zwischen den beiden hin und her, sie hatte keine Ahnung was vor sich ging. Sie klammerte sich nur ängstlich an ihre Puppe. Dann wurde sie plötzlich von dem anderem Fremden grob über die Schulter geworfen, wobei ihr 'Miara' aus der Hand und in eine schlammige Pfütze am Wegesrand fiel. Sie kreischte, aber das kümmerte keinen der hier Anwesenden. Während sie in die düstere, beginnende Nacht davongetragen wurde, erblickte sie ihren großen Bruder, abgehoben vor den spärlichen Kerzenlichtern des Hauses, wie er in den Beutel lugte und einzelne Münzen herausnahm, die silbern aufglänzten. In diesem Moment spürte sie den ersten, bitteren Hass, Hass auf ihn und diese Fremden und auf das funkelnde Geld in seiner Hand. Hass auf die dämmrige Landschaft, durch die sie getragen wurde und auf ihre gesamte, grausame Welt. Denn in den Augen eines Kindes wog so ein Vertrauensbruch tausendmal mehr als alles Geld dieser Welt.

Die BaumflüsterinOnde as histórias ganham vida. Descobre agora