Kapitel 4

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Entspannt lehne ich mich auf dem Stuhl zurück und schlage die Beine übereinander.
Es ist so ruhig, dass ich eine Nadel fallen hören könnte. Der leicht säuerliche Geruch der Bibliothek hängt in meiner Nase, die anderen Kommilitonen haben ihre Gesichter in ihrer Lektüre vergraben.
Eine kleine Lerngruppe sitzt in einer hell erleuchteten Nische und schiebt ein Magazin und einen Block untereinander hin und her, als würden sie eine stumme Unterhaltung darüber führen.
Das alles ist so friedlich, so angenehm, dass ich darüber meine eigenen Sorgen beinahe vergessen könnte.
Meine Hände stecken in der Tasche meines Hoodies, auf meinen Oberschenkeln liegt mein ungeöffneter Laptop, an dem ich eigentlich an etwas arbeiten wollte, doch stattdessen genieße ich viel lieber die Situation.
Es erinnert ein wenig an ein Gemälde.
Kaum jemand bewegt sich, es sei denn eine Seite wird umgeschlagen.
So sah mein Leben bis vor kurzem auch noch aus. Unkompliziert und einfach, die einzigen potentiellen Dramen bestanden darin, einen guten Abschluss zu erzielen und nebenbei genug Geld aufzutreiben, um die Fahrt antreten zu können, die Ende dieses Semesters auf freiwilliger Basis ansteht.
Eigentlich wollte ich heim gehen um Ruhe zu finden, sobald die Vorlesungen vorbei sind, doch inzwischen ist es bereits kurz nach sieben und ich verstecke mich noch immer hier drinnen.
Gestern ist Cassiel, wider Darels Anweisung mir Zeit zu geben, bei mir aufgetaucht, um nach dem Rechten zu sehen. Wie soll ich so über alles nachdenken? Doch hier zu sitzen und andere beim Lernen zu beobachten ist auch nicht das, was ich geplant hatte.
Nachdenklich kaue ich auf meinerUnterlippe herum und stecke mein Notebook zurück in die Tasche, ich werde sowieso nichts machen.
Wozu auch? Mein Leben besteht derzeit aus Splittern, die ich nicht zusammenfügen kann.
Statt mir daraus ein hübsches Mosaik bauen zu können, schneide ich mir lediglich die Füße an Lügen und Geheimnissen auf.
Cassiels Gesicht taucht an der Tür auf. Mit regungslosem Gesicht beobachte ich, wie er mir einen kurzen Blick zuwirft, sich hier umsieht und dann zögerlich weitergeht.
Darel scheint ihn in die Mangel genommen zu haben, vielleicht ist er mir doch sympathischer als zunächst vermutet.
Dennoch hat mir seine Anwesenheit die Idylle verdorben, weshalb ich meine Tasche schultere und Richtung Ausgang schleiche. Das Gefühl, alle Blicke würden auf mir liegen,weil ich die Ruhe hier zerstöre, lässt mich schneller werden.
Der Korridor ist um diese Uhrzeit beinahe leer, ein einziger Mensch döst mit einer tief im Gesicht hängenden Mütze an eine der Wände angelehnt.
Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ich an ihm vorbei in die kühle Nacht hinaus trete.
Die Lampen beleuchten in großen Kegeln die Gesichter der Studenten, die auf den Betonbänken sitzen oder allein oder in Zweiergruppen die breiten Kieswege entlang schlurfen.
Ich analysiere jedes mir zugewandte Gesicht, um sicher sein zu können, dass Cassiel wirklich gegangen ist, bevor ich mich als Schlusslicht an eine größere Gruppe hänge. Schon gestern habe ich mir für den Rest der Woche Urlaub genommen,sodass ich nun auf direktem Weg heim gehen kann und nicht wie sonst aus dem Nebeneingang des Hauptgebäudes schlüpfen muss, um zum Gasthof zu hasten.
Der kühle Wind treibt mir Tränen in die Augen, als ich den Schutz der feinsäuberlich aufgereihten Bäume verlasse und auf den Gehsteig wechsle.
Autos rasen an mir vorbei und blenden mich mit ihren Lichtern, die Auspuffe ziehen warme Abgaswolken hinter sich her. Ein lautes Hupkonzert an der Kreuzung prügelt unsanft auf mein Trommelfell ein.
Wär ich doch nur in der Bibliothek geblieben.

Daheim angekommen schreibe ich Zoé eine kurze Nachricht um ihr mitzuteilen, dass ich diese Woche nicht mehr auftauchen werde, bevor ich mich mit einer Decke auf mein Sofa lege und die Augen schließe.
Die dunklen Ringe unter meinen Augen sind ein überdeutliches Zeichen für meine allgemeine Verfassung; ausgelaugt und erschöpft wäre wohl noch eine Untertreibung.
Deshalb habe ich Darel gestern auch gebeten, heute noch hier aufzutauchen.
Alleine.
Ich brauche eine Auszeit und die kann ich hier unmöglich finden, in meinem Zimmer steht bereits der gepackte Koffer.
Als wüsste er, dass ich über ihn nachdenke, öffnet sich die Wohnungstür.
Ich habe es aufgegeben, mich darüber aufzuregen, dass alle hier ein und aus gehen, wie es ihnen passt,und hebe deshalb nur den Blick.
Darel schließt die Tür leise hinter sich und kommt bedachten Schrittes auf mich zu. Er setzt sich vor mir auf den Boden und betrachtet mein Gesicht, bis ich die Decke über meinen Kopf ziehe.
„Du siehst grauenhaft aus."
„Danke, ist mir bewusst", nuschle ich in den Stoff und knurre, ich glaube ihn leise lachen zu hören.
„Weshalb bin ich hier, Crystal? Du weißt hoffentlich, dass ich mir spannenderes vorstellen kann, als ewig darauf zuwarten, dass du dich dazu aufraffst, es mir von selbst zu erklären."
„Du bist nach wie vor unhöflich."
„Du hast mich zuletzt auch mit einem Wort beschimpft, dass ich garnicht erst zu wiederholen wage. Ich habe jedes Recht so zu handeln, wie ich das tue, auch wenn dir das bisher vielleicht noch nicht bewusst ist."
Ich seufze schwer und befreie mich umständlich aus meinem Kokon, bevor ich mich aufsetze und ihn ruhig anblicke.
„Wie ist es nur möglich, dass ihr immer alles auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt? Jede Erklärung,jede Offenbarung, alles geschieht immer erst später. Ihr habt mir Informationen an den Kopf geworfen und lasst mich seitdem im Regen stehen. Meine Koffer sind gepackt, ich werde für ein paar Tage verreisen um einen klaren Kopf zu kriegen. Das ist unmöglich, wenn Cassiel dauernd auftaucht."
„Nimm es ihm nicht übel, er hat dich ins Herz geschlossen. Viel zu schnell, wenn es nach mir geht. Wohin willst du fahren?"
„Das sage ich nicht, sonst werdet ihr dort auch auftauchen. In ein paar Tagen bin ich wieder hier. Wenn ihr wollt, dass ich euch glaube, dann müsst ihr auch lernen mir zu vertrauen."
„Es ist nicht so, dass wir dir im Grundsatz misstrauen, doch das Risiko, dass du angegriffen wirst ist..."
„Verschwindend gering", unterbreche ich ihn, „Darel,ich frage hier nicht nach deiner Erlaubnis, mir geht es einzig und allein darum, dass ihr euch keine unnötigen Sorgen macht."
Ich kann die Missbilligung in seinem Blick sehen, als er die Brauen zusammen zieht und sich eine steile Falte zwischen seinen Augen bildet. Dennoch nickt er zögerlich und starrt mich wieder aus diesen eisblaue umrandeten Pupillen an.
„Okay."
Überrascht lege ich den Kopf leicht schief und versuche, irgendwas aus seinem Gesicht zu lesen.Irgendwas, das mir sagt, warum es auf einmal so leicht war, ihn zu überzeugen.
„Wenn du in ein paar Tagen nicht wieder zurück bist, werden wir nach dir suchen. Sei so gut und schreib den Ort, wo du hinfahren wirst, in einen versiegelten Zettel.Ich gebe dir mein Wort darauf, dass ich ihn nicht öffnen werde,solange wir dich nicht dringend finden müssen. Wenn du an dem Tag,den du mir nennst, zurück bist, wirst du ihn so zurück erhalten,wie du ihn mir gegeben hast."
Innerlich seufze ich, doch nach außen hin versuche ich, regungslos zu bleiben. Mir ist bewusst, dass ich ohne dieses Zugeständniss nicht verreisen kann, ohne sie an meinen Fersen kleben zu haben, und doch widerstrebt es mir.
Darels eindringlicher Blick zermartert mich, es ist fast so, als wüsste er, dass er einen damit dazu zwingen kann, nachzugeben.
Was überlege ich. Natürlich ist es ihm bewusst.
Aber trotz allem habe ich das Gefühl,dass irgendwo in ihm das Ehrgefühl sitzt, das mich dazu veranlasst,seinem Wort Glauben zu schenken.
Ich verlasse mich darauf, dass er es hält.
„Gut, meinetwegen."
Ein schwaches Lächeln zieht an seinen Mundwinkeln, was schon genügt, um kleine Grübchen erkennbar werden zu lassen. Dahin ist das Bild des eiskalten Kriegers.
„Sehr schön. Schreib die Adresse auf und dann kannst du direkt los. Wann wirst du zurück sein?"
„Am Sonntag, vermutlich recht spät."
Er steht auf und steckt die Hände in die Taschen seiner Hose, sein Gesichtsausdruck ist wieder kühl und distanziert.
Eilig stehe ich auf und gehe in mein Zimmer, wo ich ein Blatt von meinem Notizblock abreiße und die Adresse in kaum lesbaren Buchstaben drauf krakel.
Wenn er ihn nicht öffnet, wird er nie davon erfahren und dadurch gibt es keine Probleme, sollte er ihn doch öffnen und mich dafür zur Rede stellen wollen, kann ich ihm vorhalten, er hätte sein Wort gebrochen.
So und so ist es ein guter Weg zu testen, ob man ihm vertrauen kann.
Zufrieden falte ich ihn zusammen und reiße einen Tesastreifen ab, den ich nutze, um die losen Seiten zu verschließen. Wo ich schon hier bin, schnappe ich mir auch gleich meinen Koffer und gehe zur Haustür.
Darel beobachtet mich schweigend. Wie versprochen drücke ich ihm die Anschrift in die Hand, wonach er ohne eine weitere Aufforderung geht.
Erleichterung macht sich in mir breit.Es war wirklich besser mit ihm darüber zu reden.

Schemenlicht - Schwarz wie die NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt