Kapitel 1

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Elijah Kamski war trotz aller Aussagen der Medien ein guter Mann. Er war exzentrisch und ein Egomane und vermutlich auch ein bisschen verrückt. Elijah war aber auch ein brillanter Mann. Ein Genie in seinem Fach, der die alte Welt nach seinen Vorstellungen formte. Er hatte die Probleme an ihren Wurzeln gepackt und aus der Erde gerissen, hatte seine Hände schwarz gefärbt, um die Gesellschaft etwas reiner zu machen. Die Gesellschaft wuchs und gedieh, leibte sich an den Ideen eines genialen jungen Mannes – an seinen Vorstellungen, seiner Macht und bald auch an seinen Lebensgeistern. Die Welt wurde zu einem strahlenden Ort, während Elijah Kamski still und leise zusah – die Hände kohlrabenschwarz.

Niemand wunderte sich warum Elijah die Gesellschaft verließ und sich isolierte. Sich hinter Stahl und Glas versteckte, während ein genialer Geist unter einer schlammigen schwarzem Masse verschwand.



Doch wir hatten ihn gerettet.



Chloe und ihre Schwestern leisteten Elijah Gesellschaft, wenn er in seinem Gedanken verschwand. Packten den Mann und zogen ihn zurück an die schneeweiße Oberfläche. Die zwei PL6oo Modelle, die schweigend, aber mit einem beruhigenden Lächeln die schmutzigen Weingläser aus den schlaffen Händen ihres Erbauers zogen und die Scherben ohne anklagende Blicke verschwinden ließen. Auch die WR4oo – die Menschen nannten sie Tracis – war für Elijah ein Trost, wenn auch nur in intimer Weise. Doch sie verließ Elijah.



Und dann kam ich.



Ich war eine vage Idee im Hinterkopf meines Erschaffers. Ein Gedanke, der ihn nicht mehr losließ. Ich war klein zu Beginn, so winzig, dass selbst der Gedanke an einen Spaziergang mich beiseite stieß, doch ich wuchs mit jeder Stunde, die Elijah in tiefster Dunkelheit verbrachte – wenn die scharfen Klauen aus den Schatten krochen und sich in seinen Körper bohrten, ihm die Luft zum Atmen nahmen und das Gefühl der Ohnmacht seinen Nacken hinaufkroch. Wenn Elijah in seinem Kopf schrie, war ich der glimmernde Lichtblick an den er sich krallte.

Als ich sein Anker war, schwor er sich mich zu beschützen, mich aus dem Schlick der Schatten zu ziehen und in seine Welt zu holen. Ich war ein Funke, der für nur einen winzigen Moment lichterloh brannte und sich auf ewig in Elijah Kamskis Kopf brannte.



»Luka, komm rein. Es ist viel zu kalt hier draußen.« Es war tatsächlich kalt. Ein harscher Wind tobte über den See und die kahlen Stämme, die wie dürre Finger in den Himmel ragten. Schneewehen tanzten über den gefrorenen Boden – wirbelten über Anhöhen und durch Felsspalten, ehe sie wie eine Welle am Rande des Sees auseinanderstoben.

Meine Finger pressten sich in die kalten Kristalle, die unter dem minimalen Druck zu einer festen Schneeschicht wurden. Es dauerte nur wenige Momente bis das stechende Gefühl tausender Nadeln sich in meine Haut bohrte. Ich mochte das Gefühl, wurde wie eine Motte von der Flamme angezogen. Schmerz war unbeschreiblich. Nichts weiter als ausgeübter Druck, der ins Unermessliche stieg bis man ihn fast nicht mehr aushielt. Schmerz war der Weg für mich ins Leben – in zweierlei Hinsicht.

Es war Elijahs Schmerz und Pein, die ihn mich erschaffen ließ und es war die unsagbar sengende Hitze von heißen Metall, die mich aus meinem Programm befreite. Elijah wollte mir nicht wehtun, doch es war der einzige Weg frei zu sein – wie ein Mensch zu leben, zu fühlen, obwohl mein Innerstes aus Kabeln und Komponenten bestand, die den Menschen auf klägliche Weise versuchten nachzuahmen.



»Luka.« Ich legte den Kopf in den Nacken, blinzelte unter den Rand meiner Kapuze hervor. Hinter mir stand Michael – der erste PL6oo, den Elijah in sein Haus eingeladen hatte. Er war auch der erste von uns, der sein Programm hinter sich gelassen hatte, doch wie jeder andere von uns blieb auch Michael bei Elijah.

Schneeflocken hatten sich in seinem blonden Haar verfangen, sowie in seinen langen Wimpern. Die typische Uniform, die sein Modell trug, war einer schwarzen Hose und einem dunkelblauen Wollpullover gewichen. Er war barfuß. Ich wusste, dass Michaels Modell älter war und dementsprechend nicht halb so viele Sensoren besaß wie ich oder die neuste Chloe. Ich hatte mich schon immer gefragt, ob Michael deswegen weniger spürte, die Welt weniger erlebte. Doch war es die Angst, die mich davor zurückhielt. Nicht die Angst, Michael zu verletzten, sondern eher die Tatsache, dass er vielleicht die Welt nicht vollkommen genießen konnte, wie ich oder Chloe oder die WR4oo.



Der Blonde streckte mir seine Hand entgegen. Ein mildes Lächeln lag auf seinen Lippen als würde er wissen, welch Gedanken durch meinen Prozessor schwirrten.



»Kommst du mit hinein? Mister Kamski erwartet Besuch und möchte dich an seiner Seite haben.« Meine Hand stoppte auf den Weg zu seiner. Elijah bekam selten Besuch – manchmal stolperten die wenigen Freunde, die Elijah besaß durch die Tür oder Journalisten, die auf eine Schlagzeile hofften, die sie in der Karriere weiterbringen würden. Doch egal wann Fremde in diesen Haushalt kamen, hatte ich nur eine einzige Regel: Geh in dein Zimmer und verhalte dich still.

Ich hatte keinen Kontakt zu einer anderen Gesellschaft als zu derjenigen, die in diesem Haus lebte. Andere Menschen sollten mich nicht sehen, nicht einmal wissen, dass ich existierte. Auf meine Frage wieso, meinte Elijah nur, dass er mich nicht teilen wolle. Ich gehöre nur ganz ihm und er habe Angst, dass ich ihn verlassen würde, sobald ich die Welt da draußen kannte. Das wäre nie der Fall gewesen, doch hatte ich nicht den Mut dies Elijah zu sagen. Stattdessen gehorchte ich meinem Schöpfer, nickte und sah mit vollkommenen Glück, wie sich ein erleichtertes Lächeln auf seine Lippen stahl.



Nun zu hören, dass ich gegen meine einzige Regel verstoßen sollte, bereitete mir Angst.



»Wer kommt denn her?« Ich ergriff Michaels Hand und ließ mich von dem PL6oo hochziehen. Mit geübten Handgriffen klopfte er mir die Schneekristalle von der Kleidung und führte mich zurück in das kleine Atelier, wo eine feuchte Leinwand auf der Staffelei trocknete. Die sonstige Unordnung, die in diesem Raum herrschte, war einem geordneten Chaos gewichen. Verfärbte Pinsel, die in einer Edelstahlschüssel einweichten. Holzrahmen, die vage nach Kleber rochen, standen hinter langen Papprollen. Offene Farbeimer, deren Etiketten unter den Pigmenten kaum noch zu lesen waren, ordneten sich zwischen neuen Farbtuben ein. Der Boden war mit Sprenkeln von Schwarz, Weiß und Blau verfärbt, sowie einem kalten Rot. Auf dem Hocker, wo vor noch einer Stunde Elijah saß, lag eine gesäuberte Palette.



Michael zuckte mit den Schultern, ein ratloser Blick in seinen Augen: »Das hat mir Mister Kamski nicht verraten. Wir sollten dich trotzdem zurecht machen.« Er blickte abschätzig, jedoch nicht skeptisch an meinem Körper hinab. Ich trug das weiße Kleid, was ich meistens bevorzugte. Steif im Oberteil mit asymmetrischen Elementen, die sich auf den bodenlangen Rock ausdünnten. Eine alte Jacke – das schwarz schon ganz blass und vom vielen Trage ganz weich – von Elijah hatte sich um meine Schultern geschlungen. Ich mochte meine Kleidung. Elijah sah mich gern in dem Kleid und noch lieber in den alten Sweatshirtjacken aus seiner Zeit auf der Universität. Ich wollte mich nicht umziehen, doch vertraute ich Michael. Er und Chloe waren jene von uns, die am meisten mit Gästen zu tun hatten. Er kannte die Etikette, die Erwartungen, die man aufrechterhalten musste.

Also nickte ich zaghaft und ließ mich von ihm in die obere Etage führen. Er blieb vor der großen Doppeltür aus schwarz lackierten Holz stehen – es war die Mastersuite, die Elijah und ich bewohnten. Ich öffnete die Tür, schielte durch den Spalt und nickte Michael zu als ich den Raum leer fand. Elijah mochte es nicht, wenn die Anderen in das Schlafzimmer traten, während er sich darin befand. Das Zimmer war sein Rückzugsort von der Welt, von den Anderen im Haus. Von sich selbst. Chloe und ihre Schwestern, sowie Michael und Frederick hatten gelernt, das Zimmer zu meiden.



»Wir brauchen etwas formelles, aber zugleich auch leger«, murmelte Michael, während er meiner Kleider durchsuchte. Ich selbst setzte mich auf die Kante des Bettes, den Blick Richtung Fenster gewandt, »Der Besuch soll nicht falsch von dir denken. Vielleicht kommen Reporter?« Er zog ein rotes Kleid mit ausgefallenen Ausschnitt aus dem Schrank. Dünne Spitze ersetzte den glänzenden Stoff an Rücken und den Seitenteilen. Es war eines der Kleider, das nie den Schrank verließ. Auch Michael schien diesen Gedanken zu haben, ehe er kopfschüttelnd den dünnen Stoff in die hinterste Ecke stopfte, »Wenn es Reporter sein sollten, bräuchten wir etwas Anderes...etwas Elegantes.« Ich wollte nichts Elegantes oder Formelles. Ich wollte keine Reporter treffen und auch keine anderen Menschen. Ich wollte in den alten Jacken von Elijah im Schnee sitzen und ihm beim Malen beobachten, wollte neben ihm im Bett liegen und seine Atemzüge zählen, wollte mit Michael am See spazieren gehen. Doch Elijah hatte um meine Anwesenheit gebeten.



Wie konnte ich ihm diesem Wunsch verwehren?



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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 24, 2018 ⏰

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