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Als Anne mit zwei Tassen Tee und einem Lächeln im Gesicht zurück ins Wohnzimmer kam, ging auch mir irgendwie das Herz auf. Sie reichte mir die wohlig wärmende Porzellantasse und setzte sich mir gegenüber, ans andere Ende der schwarzen Couch und vergrub ihre Füße unter der Decke, die sie über mich gelegt hatte. Ich beobachtete sie dabei, wie sie mit ihrem Zeigefinger immer wieder über die Konturen des bauchigen Porzellangefäßes strich und dabei nachdenklich aus dem Fenster auf die Stadt sah. "Schon verrückt, dass ich bei einem Kelly auf dem Sofa sitze..." schmunzelte sie mit einem Mal und wandte ihren Blick mir zu. "Und dabei wusste ich nichtmal, dass du einer bist." sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, dessen Inhalt sichtlich zu warm war. "Fuck, that's hot." fluchte sie leise und setzte den Tee wieder von ihren Lippen ab. "Und dann auch noch bei so einem Kelly." grummelte ich schüchtern und sah auf die Decke auf meinem Schoß. Ich war mir unsicher, ob ich stolz sein sollte, oder vielleicht mich sogar ein wenig schämen sollte. "Wie meinst du das?" wollte sie mit leiser Stimme wissen und zog die Decke noch ein bisschen mehr zu sich herüber. Ihre blonden Haare fielen ihr so sanft über die Schultern, dass es eher aussah, als wären es zarte Fäden aus Gold, die ihr Gesicht einrahmten. "Look at me." abwertend zeigte ich an mir herunter und zuckte mit den Schultern. "I am." lächelte Anne nur und versuchte es erneut mit ihrem Tee. "Du klingst ja beinahe so, als hättest du schon aufgegeben. Hast du aber nicht, oder?" ihre Frage traf einen wunden Punkt. Hatte ich das? Zwischenzeitlich sicherlich. Wieder zuckte ich einfach mit den Schultern und setzte mich wieder etwas aufrechter auf die Couch. "Maybe a bit. Ich weiß auch gar nicht, wo ich anfangen soll." Ich spürte, dass ich gar keine andere Wahl mehr hatte, als mich verletzlich zu zeigen, wenn ich nicht endgültig mit allem abschließen wollte. Ein unbehagliches, aber gleichzeitig hoffnungsvolles Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Es fühlte sich an, als würde ich mein gesamtes Schicksal in die Hände einer fast fremden Frau legen und es ihr überlassen, ob sie die rettende Hand sein würde, oder jene Person, die mich endgültig in den Abgrund stürzen würde.

"Let's start from the beginning." ihr sanftes Lächeln drückte meine misstrauischen Gedanken für einen Moment beiseite und lies mich Hoffnung schöpfen. "Wieso hast du dich denn.. Naja.. von allem abgekapselt?" ich konnte ihr ansehen, dass sie mit sich haderte. Wollte sie diese Fragen vielleicht gar nicht stellen? "Ich..." für einen Moment zögerte ich, fühlte mich aber sofort wieder sicherer, als sich ihre Augen hoffnungsvoll auf mich richteten. Vielleicht hatte sie auch einfach nicht damit gerechnet, dass ich ihr antworten würde. "Ich konnte es einfach nicht mehr. Das ständige in der Öffentlichkeit stehen. Die schreienden Fans und auch unsere Familie wurde immer mehr zu einer Art Konzern, als dass es uns um wirklichen Zusammenhalt ging. I tried my best to keep us all together, aber irgendwann konnte ich nicht mehr zurückstecken. Ich wollte immer das beste für uns, habe dabei aber das beste für mich aus den Augen verloren." Ich sah, dass sich Annes Augenbrauen zusammenzogen und sie verständnisvoll nickte. "Das ist ja wirklich so ähnlich wie bei mir, nur... krasser irgendwie." ihre Stimme klang ebenso nachdenklich wie es ihr Gesichtsausdruck vermuten ließ. "Bei dir hing ja noch viel mehr dran. Viel mehr Erwartungen und Druck..." ich konnte spüren wie sich unsere Beine unter der warmen Decke berührten und wieder machte sich eine intensive Ruhe in mir breit. "Wir hatten Plattendeals fürs Ausland auf dem Tisch liegen, internationale Touren geplant und ich bin einfach weg, habe sie im Stich gelassen." In meinem Hals schnürte sich ein Kloß zusammen, der mir beinahe sofort die Luft zum Atmen nahm. "Hey, nein, so darfst du das nicht sehen." mein zierliches Gegenüber schüttelte vehement den Kopf. "Hättest du weiter gemacht wärst du nur daran kaputt gegangen." Tatsächlich muss ich kurz lachen. Ich wäre daran kaputt gegangen? War ich das nicht bereits? "For fucks sake, just look at me." So schroff wie ich Anne anging wollte ich wirklich nicht sein und sofort konnte ich erkennen, dass ich sie verunsichert hatte. Auch ihre Beine zog sie ein Stückchen von mir weg und ich vermisste ihre Nähe sofort.

"Das... Sorry, ich wollte nicht so laut werden." zähneknirschend wollte ich mir die Decke am liebsten über den Kopf ziehen. "It's alright." versuchte Anne mir zu versichern, aber dieses Mal war ich es, der mit dem Kopf schüttelte. "No it's not. Das tut mir wirklich Leid." besonders nach den Erfahrungen mit ihrem Freund hätte mir eigentlich klar sein sollen, dass sie bei solchen Dingen sensibler war, aber ich musste mich natürlich wieder wie die Axt im Wald benehmen. "Pad, it's alright. Ich weiß ja, dass dir das Thema nicht leicht über die Lippen geht." Am liebsten hätte ich sie in diesem Moment einfach umarmt. Nicht nur weil ich Körperkontakt, der über bedeutungslosen Sex hinausging irgendwie vermisste, sondern vielmehr weil ich das Gefühl hatte, dass auch sie eine Umarmung nötig hätte. "Danke. And you're right... Du bist die Erste, mit der ich darüber rede. Keiner meiner Geschwister hat auch nur mitbekommen, wie weit ich beinahe gegangen bin." wieder traf mich Annes überraschter Blick und ich bemerkte, dass sie zögerte, dann aber doch vorsichtig fragte, was ich denn mit dem 'soweit' andeuten wolle.

Ich wurde still. Niemand, nicht einmal meine engsten Freunde, die ich von mir weggestoßen hatte wussten von diesem einen Abend, der beinahe alles beendet hätte. "Ich..." wollte sie das wirklich hören? War ich ihr nicht schon verkorkst genug? "Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn du das weißt." flüsterte ich und sah von der Decke hoch in ihre Augen, in denen sich das Licht der untergehenden Sonne spiegelte. "I won't judge." etwas versteift beugte sich Anne nach vorne und stellte ihre Tasse auf den kleinen Glastisch vor dem Sofa, ehe sie etwas weiter zu mir rutschte und ihre Beine anwinkelte. Als ihre Hand mein Knie berührte und sie ihren Kopf schief legte wusste ich einfach, dass sie es ernst meinte, auch wenn ich nicht genau deuten konnte, weshalb ich dies annahm. "Ich... war kurz davor mir das Leben zu nehmen." es auszusprechen nahm eine Last von meinen Schultern, obwohl es sich erst jetzt richtig real anfühlte. "Woah... Pad ich weiß nicht genau, was ich sagen soll." Annes Blick schnellte nervös zwischen meinen Augen und zufällig ausgewählten Stellen im Raum hin und her. "Außer, dass ich wirklich froh bin, dass du es nicht getan hast."
Ihre Worte waren wie eine warme Umarmung für mein mittlerweile kühles inneres. Sie war froh, dass ich noch am Leben war? Auch wenn mir durchaus bewusst war, dass ich nicht all meinen Mitmenschen egal war, fühlte es sich damals an wie ein stummer Hilfeschrei. Ich fragte mich ständig, ob man es mir nicht ansehen könne, wie es mir wirklich ging, oder ob die Menschen um mich herum es einfach nicht wahrhaben wollten. Aber Anne sah es, ohne mich wirklich zu kennen. Ohne mich als Maschine zu betrachten, die eben funktionieren musste. Für sie war ich okay so, wie sie mich kennengelernt hatte und das war nun wirklich nicht meine Glanzseite. "Willst du das denn... immer noch?" Ihre Hand strich  vorsichtig über mein Knie und ich konnte spüren, wie sich die Muskeln in meinem Körper, die ich wohl unbewusst angespannt hatte, mit einem Mal entspannten. "Dir das Leben nehmen meine ich." ihre Stimme war so leise, dass ich wohl Probleme damit gehabt hätte, sie zu verstehen, wenn sie auch nur einen Zentimeter weiter entfernt gesessen hätte.

Über diese Frage hatte ich noch nie bewusst nachgedacht. Wollte ich das?

SalvationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt