8. Kapitel: 24.4.1975, Lübeck

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Frank fuhr fort: „Seitdem hat sie an drei Hungerstreiks teilgenommen und nie, ich wiederhole nie, irgendein Zeichen der Reue gegeben. Ich weiß, dass du dir einredest, dass sie sich geändert hat, aber das hat sie nicht. Sie hält fest an ihren Idealen, sonst hätte sie nicht an den Hungerstreiks teilgenommen. Nur jemand, der überzeugt ist, von dem, was er tut, setzt seinen eigenen Körper als Waffe gegen den Staat ein. Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet jetzt den Kontakt zu dir wieder aufnehmen möchte, aber ich flehe dich an, mach dir keine Hoffnungen, dass sie sich geändert hat."

„Ich glaube, ich bin alt genug, für mich selber zu entscheiden", fauchte Maria, aber deutlich kraftloser als sonst.

Zu ihrem Erstaunen schüttelte Frank den Kopf. „Nein. Bei allen anderen Dingen ja, aber nicht bei deiner Schwester. Was sie angeht, hörst du nicht auf die Vernunft, sondern auf dein Gefühl."

„Sie ist meine Schwester, Frank. Meine Schwester, der ich einst ein Versprechen gab." Flehend blickte Maria ihn an. „Wir werden immer zusammen gehen. Ich muss das jetzt durchziehen." Sie nahm seine Hand, dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Es tut mir leid."

„Ich weiß." Aber es lag eine Traurigkeit in seinem Blick, vor der sie zurückschreckte und die sie fast dazu brachte, seine Hand zu nehmen und zu sagen, dass sie einsteigen und nach Hause fahren sollten. Aber nur fast. Der Gedanke an ihre Schwester war so viel stärker.

„Kommst du mit hinein?"

„Ja." Er nickte. „Ich lass dich nicht allein und nimm dir etwas von deiner Last ab, wenn du mich lässt."

„Das ist eine Last, die ich nicht teilen kann."

„Ich wusste, dass du das sagen würdest." Dennoch nahm er ihre Hand und gemeinsam schritten sie auf die Mauern der Justizvollzugsanstalt Lübeck zu, hinter der Marias schlimmster Albtraum, aber auch ihre tiefste Sehnsucht auf sie wartete. Alles vereint in einer Person: Ingrid.

Der junge Polizist, der im Eingang an einem langen Tisch saß, trug noch den Geruch von Unschuld an sich und schenkte ihnen ein so freundliches Lächeln, das Maria fast die triste Umgebung vergaß.

„Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?"

Frank drückte ihre Hand, doch Maria ließ die seine los und trat zu ihm an den Tisch.

Sie räusperte sie. „I-Ich habe ein Gespräch mit..." Ihre Stimme versagte und ihre Beine zitterten so stark, dass sie sich am Tisch abstützen musste. Doch dann war Frank da, stützte sie und meinte zu dem Polizisten: „Ingrid Engel"

Seine Stimme zitterte nicht im Geringsten, aber er verzog das Gesicht. Es war das erste Mal seit langem, dass sie diesen Namen aus seinem Mund hörte. Frank nahm Ingrids Namen nie in den Mund, sprach immer nur von ihrer Schwester.

Der junge Mann musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht deuten konnte. Was er wohl von ihr dachte? Sah er in ihr die Schwester einer Terroristin, die möglicherweise ihre Ansichten teilte und die JVA am liebsten gleich in die Luft jagen würde? Oder jemanden, der die Ereignisse genauso wenig verstand, wie er selbst und ebenso fassungslos jene Berichte über die Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz vor zwei Monaten gesehen hatte? Sah er sie überhaupt als eigenständige Persönlichkeit oder nur als Schwester jener Person, die eine Person ermordet und achtzehn weitere verletzt hatte? Vermutlich letzteres. Die Meisten, die auf der Straße vor ihr ausspuckten oder ihr begeistert auf die Schulter klopften, taten es der Taten ihrer Schwester wegen. Mittlerweile hatte Maria selbst schon aufgehört mehr zu sein, als die Schwester einer Terroristin.

Der Polizist, der bis eben in seinen Papieren geblättert hatte, sah auf: „Dann sind Sie Maria Fiedler? Können Sie sich ausweisen?"

Sie kramte ihren Ausweis hervor, auch wenn ihre Hände dabei zitterten und legte ihn vor dem Mann hin. Die Stimme ihrer Schwester kam ihr in den Sinn. Wie sie sich darüber aufregte, dass sich ein Bürger in seinem eigenen Land ausweisen musste, was viele andere Länder gar nicht erst benötigten. Wie sie erklärte, dass eine Auswahlpflicht erst bei Beginn des zweiten Weltkrieges von Hitler eingeführt worden war und dass es die Juden gewesen waren, die als Erste gezwungen worden waren, einen Vorläufer des Ausweises immer bei sich zu tragen. Für Ingrid war auch dass ein Beweis für das ihrer Meinung nach repressive System gewesen.

Wir werden immer zusammen gehenWhere stories live. Discover now