Nachts am Straßenrand

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Finster war die Nacht und der Mann am Steuer seines Wagens verkniff sich ein Gähnen. Er schaltete das Radio ein, um etwas Unterhaltung zu bekommen und die bleierne Stille in seinem Wagen zu vertreiben. Sein Arbeitstag war einmal mehr zu lang gewesen und nun saß er auch noch mitten in der Provinz fest. Er musste über Land fahren, um zu seinem Hotel zurückzukommen, in dem er abgestiegen war. Seine Verkaufstour hatte sich allerdings erfreulich gewinnbringend gezeigt und so nahm er diesen Umstand in Kauf. 

Wenn er nur nicht schon so müde wäre. Er wünschte, er hätte jemanden bei sich, mit dem er sich unterhalten könne. 

Die Straße führte durch einen Wald und durch das feuchte Wetter in dieser Gegend zogen geisterhafte Nebelschwaden durch die kahlen und düsteren Bäume. Der Himmel zeigte kaum Sterne und dem Mann kam der Gedanke, dass es nun wohl bald zu schneien anfangen würde. Kalt genug war es immerhin, sie hatten November.

Mit den Fingern im Takt zu einem alten Rocksong schlagend, steuerte er den Wagen über die Straße, die feucht und glatt glänzte. Deswegen kam er nicht voran. Er hätte schon vor einer Stunde in seinem Hotel sein sollen. 

Den Blick auf die Straße gerichtet, zog nach einer langen Kurve etwas seine Aufmerksamkeit auf sich, dass ihn verwunderte.

Am Straßenrand stand ein junges Mädchen, mit einem Rucksack auf der Schulter und dem Daumen im Wind. Er zeigte in die Richtung, in der er fuhr.

An einem solch verlassenen Ort mitten in der Einöde eines alten Waldes eine Anhalterin anzutreffen, verwunderte ihn schon sehr. Ebenso der Umstand, dass sie für dieses Wetter absolut unpassend gekleidet war. 

Etwas langsamer fuhr er an dem Mädchen vorbei, um sie einen Moment zu betrachten. Sie war jung, höchstens 18 und erinnerte ihn an seine jüngere Schwester, die in diesem Alter auch quer durch die USA getrampt war. Eine gefährliche Art, zu reisen. Besonders für eine Frau. 

Er beschloss, sie ein Stück mitzunehmen und stoppte seinen Wagen. Auf sein Blinksignal setzte sich das Mädchen in Bewegung, öffnete die Autotür und beugte sich ein Stück runter, um ihn ansehen zu können.

»Hallo, Mister. Fahren Sie über Fort Cliffton?«

Ein Blick auf sein Navigationsgerät zeigte ihm, dass dies der nächste Ort auf der Route war, etwa 40 Meilen entfernt. Er musste da durch, um in den nächsten Ort zu gelangen, in dem sich sein Hotel befand.

Also nickte er und das Mädchen stieg ein.

Sie war tatsächlich sehr unpassend für den Spätherbst gekleidet, trug eine abgefranste kurze Jeans und einen ausgeleierten Wollpulli zu Cowboystiefeln. Keine Jacke, nichts. 

»Danke, dass Sie mich mitnehmen. Ich warte schon seit Stunden, dass endlich mal ein Wagen vorbeikommt. Meine Füße bringen mich noch um.«

»Reichlich gefährlich, in der Nacht durch eine solche Gegend zu wandern.«

Das Mädchen lachte leise.

»Ich bin hier aufgewachsen. Das geht schon in Ordnung.« Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett.

»Meinen Sie, wir schaffen es bis Mitternacht, in Fort Cliffton zu sein?«

Es war noch nicht ganz 23 Uhr und 40 Meilen fuhr man in 50 Minuten, also nickte er zuversichtlich und sie nannte ihm die Adresse, an der er sie absetzen sollte. Es läge genau auf dem Weg. Anschließend entspannte sie sich in dem Sitz und blickte in die Dunkelheit.

Eine Weile fuhren sie schweigend und obwohl sie nichts sagte, half ihm ihre Anwesenheit, seine Müdigkeit etwas abzulegen. Irgendwann begann es, leicht zu regnen und der Mann spürte augenblicklich, dass die Straße rutschiger wurde, weswegen er die Geschwindigkeit drosselte.

»Wir schaffen es doch mit Mitternacht, oder?« Die Stimme des Mädchens klang sehr besorgt und ihre großen, grünen Augen sahen aus, als würde sie gleich weinen müssen.

»Ich bemühe mich, aber ich kann es jetzt leider nicht mehr versprechen.«

Er glaubte, dass sie womöglich Angst hatte, ihre Eltern würden sie bestrafen, wenn sie zu spät nach Hause käme und konnte ihre Sorge durchaus verstehen, doch die glatte Fahrbahn ließ keine hohen Geschwindigkeiten mehr zu, ohne sie und ihn zu gefährden. Sie begann zu zittern und wirkte wie ein elektrisch geladenes Teilchen.

»Schlaf etwas, ich wecke dich dann.« Er reichte ihr seine Jacke vom Rücksitz, damit sie sich zudeckte, denn er konnte deutlich Gänsehaut an ihren nackten Beinen erkennen, die nur von der Kälte herrühren konnte.

»Ich muss vor Mitternacht dort sein, sonst ist alles umsonst.«, murmelte sie, schloss die Augen und er wandte den Blick wieder der Fahrbahn zu, in der Hoffnung, ihr diesen Wunsch erfüllen zu können.

Sie war ein wildfremder Mensch für ihn, er wusste nicht einmal ihren Namen, aber es lag ihm am Herzen, sie heil und zu der gewünschten Zeit zuhause absetzen zu können.

Die Uhr tickte allerdings gnadenlos runter und als er die Stadtgrenze von Fort Cliffton erreichte, war Mitternacht um wenige Minuten überschritten.

»Tut mir lei...«, sagte er, sich zu dem Mädchen umwendend, doch sie war verschwunden! Wie in Luft aufgelöst, waren sie und auch seine Jacke verschwunden. Die Tür allerdings war verriegelt, sie konnte also nicht hinausgefallen sein. Ein Blick durch die Heckscheibe sagte ihm, dass auch niemand auf der Straße lag. Verwundert, geschockt, verwirrt, hielt er seinen Wagen kurz am Straßenrand, stieg aus und sah sich noch einmal um. 

Aber sie war und blieb verschwunden.

Was war denn geschehen?

Er stieg wieder ein und fuhr zu der angegebenen Adresse, die sie ihm genannt hatte. Ein innerer Zwang trieb ihn dazu, zu sehen, wo sie hingewollt hatte. Vielleicht hatte dort jemand eine Erklärung, was dieser Unfug sollte. 

Er parkte und sah bereits einen Mann etwa in seinem Alter an der Straße stehen. Dieser sah nicht überrascht aus, als er ausstieg und ihn auf das Mädchen ansprach.

»Ja... ich habe schon auf Sie gewartet. Denn jedes Jahr an diesem Tag taucht jemand wie Sie hier auf und fragt nach Tammi. Ich weiß nicht, warum, aber das macht sie jedes Jahr. Immer an ihrem Todestag schickt sie einen Mann zu uns, der uns von ihr berichtet.«

Ein eiskalter Schauer überfuhr den Mann.

Das konnte doch unmöglich wahr sein? Ein... ein Geist? Aber sie war doch echt? Er habe sie atmen gehört, gespürt, wie der Wagen sich minimal absenkte, als sie einstieg, er konnte sie riechen.

»Das... das kann ich nicht glauben.«

Der andere Mann lächelte leicht.

»Das können die wenigsten. Ich anfangs auch nicht. Ich hielt es für einen bösen Scherz. Doch mittlerweile sind Sie der 10. Fahrer, der sie ein Stück mitgenommen hat. Und sie hat immer dasselbe gesagt, nicht? Dass sie es schaffen müssen, bis Mitternacht genau an dieser Stelle zu sein?«

Der Angesprochene nickte.

»Es wurde zu ihrem Fluch. Sie wird niemals Ruhe finden, bevor nicht ein Fahrer es schafft, diesen Kreislauf zu durchbrechen.«

Der Mann, der sicher der Vater des Mädchens war, seufzte und bedeutete ihm, ein Stück mit ihm zu gehen. Die Müdigkeit, der Wunsch nach Ruhe und einem Bett – all das war vergessen angesichts dieses Erlebnisses.

»Tammi verschwand, genau an diesem Tag vor 10 Jahren. Sie wurde bis heute nicht gefunden, doch ich vermute, dass ihre Leiche irgendwo in dem Wald vor der Stadt ist. Sie liebte das Trampen, liebte die Gefahr. Doch es sind nicht alle Menschen auf der Straße freundlich gesinnt und einer von denen hat meinem geliebten Baby...« Seine Stimme brach ab und der andere ließ ihn gewähren. Seine Schritte führten sie zu einem umzäunten Gelände, welches sich als Friedhof herausstellte. Es war angenehm hier, weder Nebelschwaden noch Raben verunzierten das Bild, das die sauberen Gräberreihen boten.

»Wir haben damals eine alte Haarlocke von Tammi beerdigt, damit sie einen Ruheort hat und wir einen Platz zum Gedenken. Und ich glaube, dass sie diesen Ort akzeptiert hat. Sehen Sie. Das ist Ihre, richtig?«

Der Andere wandte seinen Blick von dem Mann ab zu einem Grabstein hin, der liebevoll mit Blumen geschmückt war. 

Über einer Ecke des Grabsteins hing seine Jacke. 

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