1. Kapitel: 11.5.1972, Eutin

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„Natürlich läuft bei uns nicht alles richtig", räumte Maria ein, „Und auch ich finde die ganzen alten Nazis in der Regierung und Justiz schrecklich. Doch deshalb gleich Bomben legen? Nein, das finde ich falsch."

Hanna zuckte mit den Schultern.

„Du hast deine Meinung und ich die meine."

„In Ordnung", antwortete Maria zögernd und wusste nicht, was sie mit diesem Gespräch anfangen sollte. Ihre Freundin argumentierte noch immer rational, doch der Zorn in ihrer Stimme war Maria unbekannt.

„Ich muss los", erklärte sie schließlich nach einem Moment der Stille.

Hanna nickte nur und wandte sich ebenfalls ab.

„Ich bin Zuhause, Mama", rief Maria in die Küche hinein, wo ihre Mutter mit einer Freundin vor dem Radio stand.

Auch hier wurde soeben die Nachricht von dem Anschlag auf die Amerikaner durchgegeben.

„Schrecklich so etwas!", erklärte die Freundin und drehte das Radio aus, „Lass uns lieber von etwas Erfreulicherem reden. Wie geht es denn Ingrid?"

„Ingrid geht es gut", erklärte Marias Mutter und seufzte, „Leider hat sie mit dem Studium so viel zu tun, dass sie es nicht schafft, uns zu besuchen, aber sie schickt regelmäßig Briefe."

„Dass ihr sie nach Westberlin habt gehen lassen! Ich hätte das meiner Berta nicht erlaubt. Man hört ja so schreckliche Sachen über die Unruhen dieser jungen Leute." Verständnislos schüttelte sie den Kopf. „Ich verstehe einfach nicht, was die antreibt. Uns geht es doch gut!"

Ohne sich am Gespräch zu beteiligen, stieg Maria die Treppe in das obere Stockwerk hoch. Natürlich konnte sie es sich nicht nehmen lassen, darüber nachzudenken, wie ihre ältere Halbschwester auf dieses Gespräch reagiert hätte. Wahrscheinlich hätte sie über die Ignoranz der Nachbarin geschimpft und mit ihr eine Diskussion über die Wichtigkeit von politischer Meinungsbildung angefangen. Nein. Maria hielt inne. Früher mochte sie dies getan haben, doch jetzt würde Ingrid die harmlose Nachbarin als Schwein bezeichnen und sich einer Diskussion mit ihr verweigern, weil Worte ihrer Meinung nach verschwendet waren.

Für einen Moment zögerte sie, doch dann schob sie die Tür zum Zimmer ihrer Schwester auf. Dünner Staub hatte sich auf den Möbelstücken abgesetzt, doch es war alles so geblieben, als wäre Ingrid nur kurz zur Tür raus, um sich Zigaretten zu kaufen und könnte jeden Moment wieder eintreten. Doch war das nur ein Traum, der nicht weiter von der Realität entfernt sein konnte. Ihre Mutter mochte glauben, dass ihre Tochter nur aufgrund des Studiums nicht mehr an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrte, doch Maria kannte die Wahrheit und verstand sie doch nicht. Noch nie hatte sie sich ihrer Schwester entfernter gefühlt als in diesem Moment, wo sie für einen winzigen Augenblick in ein Leben blickte, das Ingrid um jeden Preis hinter sich lassen wollte.

Nachdenklich ließ sie sich auf das Bett sinken, in das sie sich nachts allzu oft neben ihre Schwester verkrochen hatte, wenn Albträume ihr den Schlaf unmöglich machten.

Auf dem Nachttisch lag ein Anstecker mit der Aufschrift „enteignet Springer", den ihre Schwester bei einem Besuch vor zwei Jahren mitgebracht hatte. Zeitungsartikel über die Studentenbewegung und die APO waren an die Wände geklebt, über dem Bett hing ein Interview mit Rudi Dutschke.

In den Bücherregalen, die fast eine Hälfte der Wände einnahmen, fanden sich neben geschichtlichen Sachbüchern und klassischen Werken wie Schiller, Tolstoi, Gedichte von Körner und Arndt, auch Bücher, die Ingrid nie offen hatte liegen lassen, weil ihr Stiefvater diese nicht gerne sah. Maria jedoch wusste genau, wo sie diese Bücher fand und zielstrebig griff sie hinter das Bücherregal, um kurz danach eine Ausgabe von Karl Marx' Kapital in den Händen zu halten. Die zerknitterten Seiten und vielen Anmerkungen zeugten davon, dass Ingrid dieses Buch oft gelesen hatte. Auch Maria schlug es jetzt auf und blickte auf die klein gedruckten Zeilen. Nicht etwa, weil sie Marx mochte und gerne las, sondern weil sie hoffte hinter den Zeilen eine Spur jener jungen Frau zu finden, die 1968 nach Westberlin gegangen war und ihre Schwester hier in dieser Kleinstadt zurück gelassen hatte. Sie versuchte nachzuvollziehen, was Ingrid an diesem Werk so begeistert hatte, doch letztendlich stellte sie das Kapital doch wieder an seinen Platz zurück. Sorgfältig verstaute sie es hinter dem Regal, doch auch wenn ihr Vater ihr und seiner Stieftochter viele Freiheiten gelassen hatte, so hielt er dennoch nichts von Marx und dem verfluchten Kommunismus, der ihn durch die Mauer von seinen Verwandten trennte.

Wir werden immer zusammen gehenWhere stories live. Discover now