Von der Prophezeiung zum Ende der Welt - Das Tal der Götter

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Auf einem von Schnee bedeckten Plateau stehend blickte Saralac auf einen Teil der Welt, den noch nie jemand zuvor gesehen hatte. Nur die Götter wussten, welche Eigenarten und Geheimnisse dort verborgen liegen mochten. Saralac bot sich ein Anblick, der ihm den Atem raubte.

Von oben blickte er herab auf ein Meer aus Grün, welches bis zum Horizont und sogar darüber hinaus reichen mochte. Im Licht der untergehenden Sonne glitzerten, strahlten und funkelten die Blätter der Bäume, als wären es geschliffene Diamanten. An einigen Orten lag leichter Nebel darüber, der wundersame und fantastische Formen bildete, welche die Fantasie anregten. Hier und dort segelten Vögel durch ihn hindurch, deren Federkleid das Sonnenlicht reflektierte und so in allen Farben des Regenbogens erstrahlte.

Zwischen den Bäumen hindurch schlängelte sich ein kleiner Fluss, der vom klaren Wasser der Berge gespeist werden musste. Der Wald reichte oft bis an die Ufer heran, es gab aber auch weitläufige Wiesen, auf denen die farbenprächtigsten Blumen wuchsen und gediehen. Tiere huschten zwischen hohen Gräsern hindurch, auf der Suche nach Wasser und Nahrung.

Und über all dem lag eine leise Melodie, kaum wahrnehmbar. Keine Melodie, wie wir sie aus der Musik kennen und auch keine Melodie, wie ihr euch sie sonst vorstellen könnt. Denn diese leise Melodie war die Melodie der Natur selbst. Sie umfasste jedes ihrer Bestandteile einzeln, doch auch ihr Zusammenwirken in unterschiedlichster Form. Sie war alles und nichts. Sie war Leben und Tod. Sie war Zukunft und Vergangenheit. Vor allem aber war sie das Pulsieren der Zeit.

Heute vermögen wir dieses Wunder nicht mehr zu erfassen. Heute sehen wir nicht mehr die volle Komplexität der Musik. Heute fehlt ihr ein kleines Stückchen, selbst den anmutigsten Kompositionen. Damals aber war sie vollständig und in all ihrem Sein doch so simpel.

Überall in diesem Wald war diese Melodie zu vernehmen. Mal lauter und mal leiser, mal mystisch und geheimnisvoll, dann wieder erhaben wie ein uralter Baum oder das mächtige Gebirge und manchmal auch düster wie Nacht. Stets ergaben sich neue Muster und wundervolle Klänge. Saralac vermochte es diese Melodie wahrzunehmen und erkannte sie als das an, was sie war – das Schönste, das Wundervollste und das Vollkommenste, was es geben konnte. Die Götter hatten sich darin selbst übertroffen.

Voller Ehrfurcht vor diesem wundervollen Teil der Welt machte er sich an den restlichen Abstieg hinunter in das, was für viele die Vorstellung des Paradieses ist. Doch so sehr er danach strebte, die Grüne Wolkendecke zu durchbrechen und unter den Schatten der Bäume zu wandern, so wusste er doch, dass er den Abstieg nicht übereilen durfte. Denn scharfkantig waren die Felsen hier und es ging steil hinab. Einen Pfad gab es nicht, so dass Saralac nichts anderes übrigblieb, als zu klettern. Nur wenige Griffmöglichkeiten boten sich und herumliegendes Geröll erschwerte den Halt. Saralac war zu diesem Zeitpunkt längst kein ungeübter Kletterer mehr – das Gebirge hatte ihn vieles gelehrt – doch dieses letzte Teilstück war auch für ihn tückisch. Und es hätte nicht viel gefehlt und diese Geschichte würde hier enden.

Schließlich aber gelang es ihm in einem Tag und einer Nacht den Fuß des Waldes zu erreichen, der sich an die steilen, zerklüfteten Felsen schmiegte. Als die Dunkelheit hereinbrach offenbarte sich Saralac dabei ein weiteres Wunder des Waldes. Kleine Lichter schwirrten zwischen den Stämmen der Bäume umher und strahlten in bunten Farben. Es war kein Strahlen, wie das der Sonne, auch nicht wie das eines Lagerfeuers oder einer Kerze. Es war ein Strahlen, so unbeschreiblich, dass heute noch keine Worte dafür gefunden wurden. Dennoch will ich einmal versuchen eine Beschreibung zu geben, auch wenn sie nicht im Entferntesten an eigenes Erleben heranreichen wird. Nur so gelangt man zum Verständnis dieser Lichter.

Sie sind wie die warmen Strahlen der Sonne, doch wärmen sie nicht, sie sind wie das Licht eines Lagerfeuers, doch weniger hell. Sie sind heller als das Licht einer Kerze, doch flackern sie mehr. Sie besitzen alle Farben des Regenbogens und welche Farben auch immer noch dazwischenliegen mögen. Doch addieren sich die Farben nicht zu reinem Weiß, sondern existieren nebeneinander und wandeln sich ständig. Wer diese Lichter erblickt, empfindet die reinste Freude, aber auch die tiefste Trauer. Manche behaupten, es handele sich dabei um die Seelen des Waldes. Doch was genau sie sind, steht nirgends geschrieben. Genauso wenig steht geschrieben, woher sie stammen und wohin sie ziehen. Manche sehen sie, manche wiederum nicht. Manchmal verweilen sie an dem gleichen Ort und sind dort Nacht für Nacht anzutreffen, manchmal ziehen sie aber auch scheinbar ziellos umher und tauchen an den seltsamsten Orten auf. Vieles über sie liegt im Verborgenen, manche nennen sie deshalb auch die Verborgenen selbst, die Splitter einer Macht, die unsere Erfassungsgrenze übersteigt.

Zeitenwandel - Geschichten aus der alten WeltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt