║Zweiundzwanzig Tage danach║

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Mir wird klar, dass ich so nicht über die Grenze komme. Ich brauche einen Anker, der mich davor bewahrt, abzutreiben, einen Ring, der mich rettet.

Ich schlage meine Augen auf und schaue mich suchend um. Rote und grüne Lichtflecken tanzen wild über die Wände. Schweiß perlt von meiner Stirn. Es ist heiß und stickig. Ich taste nach meinem Handy. Es ist kurz vor zwölf.

Auf einmal steht er vor mir. Zuerst erkenne ich ihn nicht. Doch als er mich in seinen Arm zieht und mir ein „Happy Birthday" ins Ohr flüstert, erkenne ich ihn an seinem Geruch. Augenblicklich beschleunigt sich mein Herzschlag. Ich habe ihn vermisst.

Seine Augen glänzen verräterisch im schummrigen Licht und seine Haare stehen wild in alle Richtungen ab.

So als hätte sie jemand mit der Hand mutwillig zerzaust.

Mein alkoholträges Gehirn verarbeite noch, was meine Augen sehe, als sich hinter Max' Rücken eine zweite Person nach vorne schiebt. Ehe ich mich versehe, werde ich in eine Umarmung gezogen. Der Duft nach frischen Schnittblumen kitzelt in meiner Nase.

„Alles Gute zum Geburtstag, Luca!", schreit Lou gegen die Musik an in mein Ohr und knutscht mich auf die Wange. Ich schiele zu Max rüber, doch der starrt mit abwesendem Blick vor sich hin. „Hier, das kommt von Max und mir!", schreit sie noch lauter, als sie sich wieder von mir gelöst hat und drückt mir einen Umschlag in die Hand. Ich schlucke. „Danke!", schreie ich zurück und schenke Lou ein Lächeln. Max sieht mich noch immer nicht an.

Ich lege den Umschlag zu den anderen paar Geschenken auf den Haufen. Es waren nicht viele, nur eine Hand voll. Als ich mich wieder umdrehe, sind Max und Louisa in der Menge verschwunden. Ich wollte ihnen gerade etwas zu trinken anbieten.

Seufzend lasse ich mich auf einen Hocker an der Bar fallen. Meine Beine sind schwer und mein Schädel pocht.

Ich suche ihn nicht. Es ist mir schon egal.

Abwechselnd trinke ich mit den Leuten, die rechts und links neben mir sitzen. Es ist warm und wir lachen viel.  

Gegen drei lichtet sich der Kellerraum allmählich. Um vier sind auch die letzten Sturzbesoffenen verschwunden. Ich hoffe, alle kommen halbwegs gut nach Hause.

Ich will gerade die Kellertür hinter mir abschließen, als sich eine Gestalt aus dem Schatten löst und mich zu Tode erschreckt.

„Max! Was machst du denn noch hier?" Ich befehle meinen zittrigen Händen den Schlüssel ins Türschloss zu stecken und abzuschließen. Scheiß Alkohol. Max' Blick brennt unangenehm auf meinem Rücken. Er sagt kein Wort.

„Wo ist Lou?" Keine Antwort.

„Musst du nicht nach Hause?" Schweigen.

„Bist du nicht müde?" Stille.

Schließlich habe ich genug.

„Hör zu, Max. Ich weiß nicht, was du jetzt noch von mir willst, aber ich bin müde und möchte schlafen. Geh nach Hause." Ich quetsche mich an Max vorbei durch den engen Gang.

„Luca." Max Stimme ist rauer als sonst, ein wenig heiser vielleicht.

Ich drehe mich auf dem Treppenabsatz um. „Was?" Max sieht mich zum ersten Mal direkt an in dieser Nacht. „Was willst du noch von mir?", murmle ich leise und spüre den Kloß in meinem Hals wachsen. Mit drei Schritten ist Max bei mir und zieht mich von hinten in seine Arme. „Luca, Luca", flüstert er und presst sein Gesicht in meinen Nacken. Ich spüre, wie meine Augen feucht werden und blinzle. „Ich habe dich vermisst." Mein Körper spannt sich bei seinen Worten an. Seine Brust bebt.

Er zittert.

„Lass uns hochgehen", wispere ich leise in das gespenstisch leere Treppenhaus.

Max folgt mir ohne Worte.

Das Knacken des Schlüssels beim Aufschließen hallt unheimlich von den kargen Wänden wieder. Die Tür knarrt, als ich sie aufstoße, und die Holzdielen unter meinen Füßen ächzen leise. Ich höre Max' vorsichtige Schritte hinter mir.

Als die Tür hinter uns ins Schloss fällt und der Wiederhall im Treppenhaus verklungen ist, knipse ich das Licht an. Zu grell flammt meine Deckenlampe auf; ich kneife die Augen gegen die Helligkeit zusammen. Mein Schädel pocht wie verrückt und meine Muskeln schmerzen höllisch. Eigentlich will ich nur eines: ins Bett.

Ich schmeiße die Schlüssel auf den Garderobenschrank und schlurfe Richtung Küche. Max folgt mir in einigem Abstand. „Möchtest du auch Milch?" Meine Stimme kratzt im Hals. Dankend nickt Max, als ich ihm ein Glas in die Hand drücke. 

Ich sehe ihm dabei zu, wie er trinkt. Sein Kehlkopf hüpft beim Schlucken auf und ab. Max sieht hoch und fängt meinen Blick auf. Wieder starren wir uns wortlos an, bis ich schließlich den Blick abwende. Ich halte diese unangenehme Stille nicht mehr lange aus. Langsam drehe ich Max den Rücken zu und stelle mein Glas in die Spüle. Ich höre, wie Max hinter mir aufsteht. Ich spüre, wie er hinter mir steht. Er stellt sein leeres Glas neben meines. Für einen winzigen Augenblick berühren sich unsere Hände.

Ein Zucken schießt von meinen Fingerspitzen aufwärts durch meinen Körper. Ich erstarre. Max steht immer noch so dicht hinter mir, dass ich seinen Atem in meinem Nacken spüren kann.

„Luca?"

Seine Stimme ist noch immer rau und ungewöhnlich tief. Langsam drehe ich mich um. Unsere Nasen sind Zentimeter von einander entfernt und ich erkenne die winzigen hellen Sprenkel in seinen dunkeln Augen.

Ich fühle mich wie in einem Käfig.

„Ich habe dir etwas mitgebracht. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag."

Mit einer Hand zieht er aus seiner Jackentasche einen ziemlich zerbeulten und zerquetschten Schokomuffin hervor. Mit einer Bewegung befreit er den kleinen Kuchen aus seiner Plastikverpackung und holt aus der anderen Jackentasche ein Feuerzeug und eine Miniwachskerze hervor. Zwei Sekunden später halte ich einen lädierten Schokomuffin mit einer leicht verbogenen und tropfenden Geburtstagskerze in der Hand. Perplex sehe ich auf meine Hände hinunter. Dann blicke ich Max an.

Und lächle.

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Die Sekunde, in der die Welt stillstandWhere stories live. Discover now