3rd chapter

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Verloren stehe ich noch immer da.

Mit einem Mal wird mir die Kälte des Morgens bewusst und ein Schauer läuft mir über den Rücken.

Wie kann er das, was er gesehen hat, einfach ignorieren? Wie ist es ihm überhaupt gelungen, so viel Neues auf einmal so leicht zu verkraften und letzten Endes einfach zu übergehen?

Er muss mich immer noch nicht gesehen haben. Das ist die einzige Erklärung, die mir durch den Kopf fährt, wenn auch so unwahrscheinlich. Es geht gar nicht anders. Ich muss mir eingebildet haben, unsere Blicke hätten sich gestreift. Es muss einfach so sein!

Mit neu gefasstem Mut haste ich weiter, die Farben leiten mir wie ein Wegweiser meinen Pfad.

„Jetzt sieh dich doch endlich mal um!", rufe ich ihm hinterher, woraufhin einige Menschen wirklich verdutzt nach der Stimme suchen, die diesen Befehl gegeben hat, bemerken, dass sie mich nicht kennen und achselzuckend weiterlaufen.

Noch einmal wage ich es, zu rennen. Es grenzt an ein Wunder, dass ich nicht schon auf dem Boden liege, weil ich der Länge nach auf die Nase gefallen bin. Vielleicht rettet mich das Adrenalin in meinem Körper.

Ich nähere mich ihm, renne schneller ... und dann passiert es doch. Der Absatz meines Schuhs bleibt in einem Riss im Asphalt hängen, ich knicke um und stürze nach vorne. Ein Reflex sorgt dafür, dass ich den Arm des jungen Mannes greife und mich daran festhalte.

Er wird durch den plötzlichen Ruck nach hinten gerissen, strauchelt, kann sich jedoch gerade so noch halten und zieht mich nach oben, sodass ich ebenfalls wieder stehe, ohne dass ich den Boden berührt habe.

Erwartungsvoll blicke ich in seine unbeschreiblichen Augen, sie sind hell und scheinen, direkt durch meine äußere Hülle hindurch zu sehen, mitten in mein Herz.

Aber seine Miene verrät keine einzige Gefühlsregung. Nahezu gleichgültig und kalt sieht er mich an.

„Alles in Ordnung?", fragt er mit einer rauen Stimme, zieht mich ganz auf die Beine und löst dann fast hastig seinen Arm aus meiner panischen Umklammerung.

„Ja, klar", erwidere ich verdutzt, er sieht nicht sehr verwundert über die Farben aus, die er plötzlich sehen muss.

„Aber ... wollen wir Nummern austauschen oder so?", frage ich dann noch verwirrter.

Schon so oft sind wir in der Schule durchgegangen, was man in meiner Situation tun soll. Anfangs nicht zu aufdringlich wirken, sich erst einmal kennenlernen und ein wenig Zeit miteinander verbringen.

Eine Woche lang wird man von seinen Pflichten freigestellt, um mit seinem Seelenverwandten Zeit zu verbringen.

Im Lehrbuch ist das alles so simpel. Keine Schwierigkeiten, keine Komplikationen. Es wird erwartet, dass sich beide riesig über das Glück freuen, sich endlich gefunden zu haben und direkt Zeit miteinander verbringen wollen.

Worauf mich aber niemand jemals vorbereitet hat, ist, dass meine andere Hälfte die Stirn runzelt und mich skeptisch anblickt.

„Tut mir leid, ich schließe nicht mit Fremden auf der Straße Freundschaft."

Eigentlich müsste ich langsam wirklich los, die Verfolgung hat mich auf einen völlig anderen Weg gebracht und wenn ich nicht zu spät kommen will, sollte ich mich beeilen.

Stattdessen bleibe ich wie angewurzelt stehen.

„Aber ... wir sind doch nicht fremd", stammele ich, „jetzt schon noch, doch das wird sich ja ändern! Du kannst mich doch nicht einfach so ignorieren!"

Seine Brauen ziehen sich zusammen, als er mich einen Moment verwirrt ansieht, bevor er einige Male den Kopf schüttelt.

„Du ...", er erstarrt, mustert mich und runzelt noch einmal die Stirn. „Kennen wir uns?"

Eilig schüttele ich meinen Kopf.

„Nein", murmelt er, mehr zu sich selbst als zu mir. „Nein, das hätte mich auch wirklich verwundert-"

„Hör zu", falle ich ihm ins Wort, „ich bin Mira Maxwell, heute ist mein erster Tag als Lehrerin, ich weiß nicht, ob die Regel auch dann gilt oder ich trotz allem bei meinem Arbeitsplatz erscheinen muss."

Besorgt denke ich an meine Eltern, die sich unglaublich für mich schämen werden, wenn ich mir schon heute einen Fehltritt erlaube.

Mein Gegenüber öffnet den Mund, schließt ihn sogleich aber wieder. Ein Funke des Verstehens leuchtet in seinen wundervollen Augen auf.

„Ich-", er korrigiert sich, „wir sind bunt?"

„Ja!", stimme ich begeistert zu.

Wie kann ihm das zuvor entgangen sein?

Bitte, lass es kein geistig Verwirrter sein! Das halte ich nicht aus. So sehr ich auch versuche, mich den Goldenen Fünf zu beugen, das würde ich tatsächlich nicht schaffen. So stark, zu Hause jemanden zu betreuen, der nicht für sich selbst sorgen kann, bin ich nicht.

Argwöhnisch mustere ich ihn nun genauer und suche nach Anzeichen, die auf eine geistige Behinderung hindeuten.

Nichts lässt sich erkennen. Seine Augen sind klar, sein Gesicht recht hübsch und alles in allem sieht er nicht wie jemand aus, der beispielsweise unter Down-Syndrom leidet.

Da sticht mir etwas ins Auge, das ich vorher nicht beachtet habe, da es im Gegensatz zu seinem restlichen Aussehen ganz einfach weiß geblieben ist. Es hat also wirklich diese Farbe. Ein Verband, der um seinen Arm gewickelt ist. Es ist der Arm, an dem ich mich festgehalten hatte, jedoch weiter unten, nicht dort, wo meine Hand verzweifelt Halt gesucht hat. Sein Ärmel muss dadurch etwas nach oben gerutscht sein.

„Du bist verletzt", stelle ich besorgt fest und er ist einen Augenblick verwirrt, bis er seinen Arm kurz mit seinem Blick fixiert und damit versteht.

„Nur ein kleiner Makel", winkt er ab und schiebt seinen Ärmel fast beiläufig nach unten, sodass mir die Sicht verwehrt wird.

„Wie heißt du?", will ich wissen, in der Hoffnung, irgendwie mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Denn dann, das sage ich mir, werde ich seine herzerwärmenden Seiten zu Gesicht bekommen. Die Gründe, weshalb er perfekt für mich ist.

„Louis", entgegnet er und zieht einen Mundwinkel leicht nach oben, nur der Hauch eines Lächelns, aber irgendwie weiß ich, dass ihm ein wahres Lachen nur äußerst schwierig zu entlocken ist.

„Und doch, die Regel gilt. Du hast eine Woche frei, Mira", erklärt er mir dann.

„Woher weißt du das?", frage ich misstrauisch.

Nun sieht er mir zum ersten Mal länger als nur für einen Moment direkt in die Augen. „Vertrau mir einfach."

Die Dinge, die sie nicht sehen || l.t. ✓Where stories live. Discover now