«Also, wer ist dafür, dass wir vorerst hier bleiben?», fragte Elon.

«Ja ich wäre dafür, wir könnten ja morgen die Gegend ein wenig genauer unter die Lupe nehmen und uns dann entscheiden, oder was meint ihr?».

Wir nickten, alle. Jeder erfüllt von diesem sonderbaren Gefühl, angekommen zu sein. Angekommen an einem neuen zu Hause nach geglückter Flucht. Voller Tatendrang und glücklich. Glücklich darüber, unseren Platz gefunden zu haben. Glücklich darüber, noch am Leben zu sein.

An diesem Abend fiel es mir weniger leicht als sonst, einzuschlafen. Als ich zwischen Seyra und Elle im Schlafsack lag, kam in mir plötzlich die Aufregung hoch. Hier sollten wir also bleiben, das würde unser neues zu Hause werden. Die letzten drei Wochen waren wir nur marschiert, ohne Ziel. Ein Marsch ins Ungewisse. Und davor waren wir so lange damit beschäftigt gewesen, diese Flucht, diesen Ausbruch aus dem System und das Leben danach vorzubereiten. Die anderen waren Monate, einige sogar Jahre daran gewesen, das alles zu planen und alles zu organisieren, dass wir aus der System in das wir hineingeboren waren entrinnen konnten. Die Stadt zu verlassen war wirklich nicht einfach gewesen. Und so waren wir die ersten Menschen seit dem dritten Weltkrieg, die hier draussen waren, in der Natur. Das wovor man uns immer Angst gemacht hatte. Das was uns als mörderisch, zerstörerisch und grausam vorgestellt worden war.

Und nun waren wir hier. Hier an dem Ort an dem wir leben sollten. An dem wir vielleicht alt werden würden. Das alles schien so unwirklich. Während ich zu den Sternen hoch sah, rann mir eine einzelne Träne die Wange herunter. Klar, hell, leuchtend, glänzend, unendlich. Tausende, Millionen, Milliarden Sterne in den ewigen Weiten des Universums. Ja hier wollte ich bleiben, mit diesen Menschen die da um mich herumlagen. Gute Menschen, Menschen denen ich vertraute, die ich mochte und liebte. Mit denen ich stark war. An der Seite dieser Menschen würde ich leben und sterben, und das hier, am schönsten Ort auf dieser Welt. Ich war glücklich, einfach unendlich glücklich. Und so endete mein Geburtstag, ich wurde heute siebzehn Jahre alt.

Der nächste Morgen begann wie immer kurz vor Sonnenaufgang mit dem ersten Licht. Yasin der fitteste Frühaufsteher hatte bereits ein Feuer entfacht und kochte Tee aus unterwegs gesammelten Kräutern und den üblichen Brei, angerührt aus Wasser und einem graubraunen Pulver. Platzsparend, leicht, haltbar und nahrhaft, dafür komplett geschmackslos.

Wie jeden Morgen bisher wurde beim Frühstück der Tag diskutiert und geplant. Doch heute war alles irgendwie anders. Wir planten nicht wie sonst immer die ungefähre Richtung und unser etwaiges Ziel. An diesem Morgen besprachen wir, was wir in der Gegend gerne sehen wollten, was wir ansehen wollten, was wir abklären wollten. Dabei teilten wir ein. Der Wald sollte angeschaut werden, der See inspiziert, die Wiesen und Felder, irgendwer musste sich einen genaueren Überblick verschaffen, jemand musste den Bach genauer unter die Lupe nehmen und so weiter. Und jemand musste für Essen sorgen, das übernahm wie so oft Malia.

Ich stapfte mit Kjell in Richtung See wozu wir dem Bach folgten um einige hundert Meter ans Ufer zu stossen. Tiefblau und spiegelglatt lag er vor uns. Etwa zwei Kilometer lang, etwa ein Kilometer breit. Nicht gross, aber wunderschön und auf faszinierende Weise geheimnisvoll. Wir gingen eine Weile am Ufer entlang und gelangten schliesslich an einen kleinen, steil abfallenden Abhang. Wir standen etwa zwei Meter über der Seeoberfläche und beobachteten das Wasser, welches hier plötzlich grün aussah. Kjell holte die Kräcker hervor die er mitgenommen hatte und zerbröselte sie in der Hand. Dann warf er einige ins Wasser und wir warteten. Aber nicht sehr lange, die Kräcker waren noch nicht richtig untergegangen, da bewegte sich in der Tiefe bereits etwas. Ein merkwürdiges Wesen, etwa so lange wie mein Unterarm tauchte aus dem Dunkel des Wassers auf. Seltsam geformt und mit komischen flachen Platten am Ende verseht. «Ein Fisch!», rief Kjell. Ein Fisch, ich hatte davon schon einmal gelesen, aber noch nie in Echt gesehen. Allgemein hatte man uns die Existenz von Tieren mehr oder weniger verschwiegen, Menschen sollten ja mehr oder weniger die einzigen Lebewesen mit einer gewissen Intelligenz sein. «Und da noch einer!», tatsächlich hinter dem ersten tauchte noch ein Fisch auf, der sich zielstrebig ein Kräckerkrümmel nach dem anderen schnappte. «Noch zwei!», Kjell war jetzt richtig aufgeregt. «Wenn wir die fangen können, haben wir viel weniger Probleme mit den Vorräten!». Seine Augen glühten vor Freude. Und diese Freude steckte auch mich an. Auch wenn es nicht mehr ganz so aufregend war, ein neues Tier kennenzulernen, wie es das vor drei Wochen noch gewesen war, eine Nahrungsquelle stellte einen weiteren Grund dar, hier zu bleiben. Und ich wollte hier bleiben, das war mir gestern Nacht unter den Sternen klar geworden. Nachdem auch der letzte Fisch wieder in den Tiefen verschwunden war, machten wir uns auf um uns einen noch besseren Überblick über den See zu verschaffen. Doch am ganzen Ufer entdeckten wir nichts, vom dem wir dachten, dass es hätte anders sein sollen und so kehrten wir nach knapp zwei Stunden zurück zu den anderen an unserem gestrigen Nachtlager. Dort war Malia gerade daran, sich einen Überblick über die verbliebenen Vorräte zu verschaffen, während Lias gerade mit einem Bündel abgebrochener Stöcke zur Feuerstelle kam. «Und wie wars am See?», rief er uns entgegen.

Out of the systemWhere stories live. Discover now