3. Kapitel

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Alec

Die nächsten drei Wochen waren der absolute Horror. 
Am Anfang hatte ich mich noch darum bemüht, ein Lächeln auf den Lippen zu haben, meinen Geschwistern zuliebe.
Jedes Mal wenn man mich fragte, wie es mir ging, antwortete ich damit, dass es mir gut ging und alles okay war. Und meine Geschwister glaubten mir.
Doch nach ein paar Tagen war mir der Druck zu viel geworden.
Ich verschanzte mich in meinem Zimmer und kam nur dann raus, wenn es absolut notwendig war. Am Anfang hatten Jace und vor allem Izzy noch versucht, mich aus meinem Zimmer zu locken, doch nach einer Woche hatten sie das Ganze aufgegeben.
Sie kamen nur noch selten vorbei, um zu fragen, ob alles okay war. Und ich verließ nur noch selten diesen Raum.
Wenn ich aß, dann immer nur, wenn ich mir sicher war, dass ich niemandem auf meinem Weg zur Küche begegnen würde.
Wann ich zuletzt richtig geschlafen hatte, wusste ich nicht.
Ich wachte nach spätestens drei Stunden schweißgebadet und mit klopfendem Herzen aus einem Albtraum auf, in dem ich noch einmal miterlebte, wie Magnus mich verließ.
Diesen Traum hatte ich seit ungefähr zwei Wochen und immer, nachdem ich diesen Albtraum hatte, ging es mir miserabel.
Manchmal weinte ich dann.
Meistens ging ich danach ins Badezimmer und schnitt mich wieder.
Aber mich schlecht fühlen tat ich danach *immer*.
In dieser Zeit war das Messer in meinem Bad so eine Art neuer, bester Freund für mich geworden.
Doch es war trotzdem nicht einfach für mich.
Wenn es mir schlecht ging, dann schnitt ich mich. Für einen Moment fühlte ich mich dann besser. Ich fühlte mich befreit. Doch nachdem ich die Klinge weg legte und auf meinen Arm schaute, fühlte ich mich schlimmer als vorher.
Denn der psychische Schmerz kam wieder und das Ritzen hatte nichts daran geändert. Der einzige Unterschied war, dass ich nun eine neue Wunde hatte. Eine neue Narbe. Einen weiteren widerwärtigen Makel an mir. Einen weiteren Grund, mich selbst noch mehr zu hassen.
Aber ich konnte nichts dagegen tun.
Es war eine Art Instinkt, eine Art Sucht. 
Ich brauchte den Schmerz.
Izzy und Jace würden das nicht verstehen, weswegen ich ihnen auch nichts davon erzählt hatte. Auch was Magnus anging, hatte ich nicht mit ihnen darüber geredet. Ich wollte kein Mitleid und ich wollte vor allem nicht, dass einer von den beiden (Jace) vor Magnus Apartment auftauchte und ihm eine verpasste.

Mein Wecker klingelte wie gewöhnlich um sechs und wie gewöhnlich war ich längst wach.
Ich stand auf und ging zu meinem Kleiderschrank, nur um es mir dann anders zu überlegen und wieder ins Bett zu gehen.
Warum sollte ich überhaupt aufstehen?
Izzy und Jace gingen in letzter Zeit lieber mit Clary auf Dämonenjagd, als mit mir. Und um ehrlich zu sein, konnte ich ihnen das nicht verübeln. Eigentlich war ich sogar dankbar für die Auszeit.
Damit gab es keinen Grund für mich, mich anzuziehen und irgendetwas zu tun.
Ich drehte mich auf den Rücken und zog meinen linken Ärmel nach oben.
Stumm starrte ich auf die vielen Narben, die sich gebildet hatten.
Manche von ihnen waren nur oberflächlich und recht klein.
Andere waren tiefer und wesentlich länger.
Und die meisten von ihnen waren so tief, dass sie nicht richtig verheilt waren und deswegen wulstig wurden. Wenn ich mit dem Finger über sie strich, fühlten sie sich wie kleine Hubbel auf meiner Haut an.
Aber am meisten stach das Wort 'erbärmlich' hervor, dass ich mir in den Arm geritzt hatte.
Diese Narben waren am schlechtesten verheilt.
Wenn ich aus der Dusche stieg, waren meine Narben lila geworden und auch so sahen sie nicht typisch weiß aus, sondern waren eine Mischung aus rosa und hellem rot.
Ich starrte meinen Arm weiter an, ehe ich den Ärmel wieder darüber zog. Es war schlichtweg abstoßend, was ich tat.
Aber ich *musste* es tun.
Der Schmerz half mir, mich am Leben zu fühlen. Er half mir, meinen seelischen Schmerz zu vergessen. 
Zwar nur für kurze Zeit, doch das wir mir egal. Diese ‘kurze Zeit‘ war für mich besser, als nichts.

Vermutlich lag ich seit Stunden so da, den Blick an die Decke gerichtet, mit diesem dumpfen, schmerzhaften Pochen in meiner Brust.
Genau konnte ich es aber nicht sagen.
Zeit war irgendwie bedeutungslos für mich geworden, seit Magnus aus meinem Leben verschwunden war.
Was interessierte es mich auch, wie viel Uhr wir hatten? Oder wie lange ich in meinem Zimmer lag, abgeschottet von der Außenwelt?
Das Leben ist scheiße und dann stirbt man.
Fertig. Da bockte es niemanden, ob du 40 Jahre gelebt hast, oder nur 18. Am Ende landete jeder so oder so in einem Grab und dann erinnerte sich irgendwann eh keiner mehr an einen. Und so etwas wie ein 'Happy End' gab es auch nicht.
Ein freudloses Lächeln erschien auf meinen Lippen.
Schon komisch über was man alles nachdenkt, wenn einem das Leben plötzlich scheiß egal ist.
Ein energisches Klopfen an meiner Zimmertür riss mich schließlich aus meinen Gedanken und verwirrt richtete mich auf.
Ich erwartete seit gut drei Wochen eigentlich keinen Besuch…
„Was bei Raziel… Seit wann schließt du ab?“, kam es genervt von Jace. 
Statt meinem Bruder zu antworten, schwieg ich einfach. Wer weiß, vielleicht ging er dann einfach wieder weg…
„Alexander Gideon Lightwood, mach die Tür auf!“
Super. So viel zu dem 'vielleicht geht er dann wieder weg.'   
Kurz überlegte ich, ihn einfach zu ignorieren. Allerdings hatte Jace gerade meinen kompletten Namen verwendet, was bedeutete, dass ich am Arsch war.
Also musste ich entweder diese Tür öffnen oder Jace trat sie ein.
Seufzend kletterte ich aus meinem Bett und schloss die Zimmertür auf.
Um Engels Willen, warum ließ mein Bruder mich nicht in Ruhe? Mein Leben war (hoffentlich) sowieso bald zu Ende.
War es da zu viel verlangt, mich für den Rest meines Daseins in Frieden zu lassen?
Anscheinend.
Jace schob mich zur Seite und trat ungebeten in mein Zimmer.
„For fucks sake…“, entfuhr es ihm, als er den Raum genauer betrachtete.
Meine Gardienen waren zugezogen, damit ja kein Licht hinein kam und dem Raum eine Art Friedhofs-Atmosphäre verlieh.
Die meisten meiner Klamotten lagen zusammen geknüllt zwischen unzähligen, benutzten Taschentüchern auf dem Boden herum und wann ich mein Zimmer zum letzten Mal geputzt hatte, wusste ich nicht mehr.
Mein altes Ich wäre ausgerastet. Denn eigentlich war ich ein kompletter Kontrollfreak was sowas anging und ich hasste Unordnung. 
Aber mein jetziges Ich zuckte bei dem Zustand dieses Zimmers nur mit den Achseln.
Konnte mir ja egal sein…
„Verdammt, Alec!“, meinte Jace und wirbelte zu mir herum, „Hier sieht’s aus, als hätte ‘ne Bombe eingeschlagen!“
„Und?“, gab ich, unbeeindruckt von der lauten Stimme meines Bruders, zurück, „Ich erwarte eh keinen Besuch.“
Jace blinzelte.
„Das ist mir klar!“, schnaubte er, „Zieh dich um und komm in fünf Minuten zum Trainingsraum! Wir müssen reden!“
Ohne auf meine Antwort zu warten, ging er zurück zur Tür.
„Du bist nicht meine Mutter!“, erinnerte ich meinen Parabatai knurrend, nur für den Fall, dass ihm das entgangen war, und wäre am liebsten wieder in mein Bett gekrochen.
„Ja, Raziel sei Dank“, erwiderte Jace nur, „und jetzt beeil dich. Wie gesagt, fünf Minuten!“
Damit verschwand mein Bruder wieder.
Für einen Moment überlegte ich, einfach wieder abzuschließen und so zu tun, als wäre Jace nie hier gewesen. Allerdings standen die Chancen, dass er mich dann umbrachte, ziemlich gut, weswegen ich genervt stöhnend ein paar Klamotten vom Boden fischte und mich umzog.
Ein Blick in den Spiegel zeigte mir, dass ich noch immer das Erscheinungsbild eines Obdachlosen besaß und ich wandte mich angeekelt ab.
'Widerwärtig.'
Die dunklen Ringe unter meinen Augen waren fast schwarz und meine Haut schien blasser zu sein, als sie ohnehin schon war. Meine Haare waren zerwühlt und meine Augen verquollen vom vielen weinen.
Da Jace gesagt hatte, dass wir in den Trainingsraum gingen, hieß das wohl, das er mit mir trainieren wollte, weswegen ich mir meine Kampfmontur überzog.
Dann verließ ich den Raum und stapfte die Treppe nach unten.
Was ich jedoch nicht ganz bedacht hatte, war, dass ich auf dem Weg zum Trainingsraum an der Küche vorbeikam.
Ich beschleunigte meine Schritte, doch es war zwecklos. Izzy und Clary, die zusammen am Esstisch saßen, hatten mich bereits bemerkt.
„Alec!“, rief meine Schwester erfreut und lief auf mich zu, nur um mich fest in den Arm zu nehmen, „Ein Wunder, dass Jace es geschafft hat, dich aus deinem Zimmer zu holen.“
„Hey, Iz“, murmelte ich und löste mich von ihr, nur um von Clary umarmt zu werden. 
Die Umarmung der Rothaarigen war zurückhaltender, wenn auch nicht weniger herzlich.
„Freut mich, dich zu sehen“, meinte Clary und es klang ehrlich.
Ich zuckte nur mit den Achseln. Was sollte ich auch groß darauf erwidern?
„Jace wartet auf mich“, erklärte ich kurz und verzog mich dann wieder.
Ich war es nicht mehr gewohnt unter Menschen zu sein, selbst, wenn es sich dabei um meine Familie handelte.
Ohne abzuwarten, ob die zwei noch etwas sagen wollten, ging ich weiter.

Battle ScarsWhere stories live. Discover now