An jemanden, der nicht in deinem Land lebt

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Hallo, Fremder

Sehr vieles wird einfacher, wenn man sich die Distanz wenigstens vorstellt. Im teilweise doch recht anonymen Internet könnte ich mit einem ehemaligen, verhassten Klassenkameraden schreiben und mich prima verstehen, ohne dass wir beide es wüssten. Und sehr vieles wird unglaublich schwerer, sobald man sich der Distanz, die zwischen zwei Menschen liegt, bewusst wird. Wenn die Anonymität hinter einem Nicknamen nach und nach dem Wissen weicht und man sich auf sehr kreativen Wegen kennenlernt.

Diesen Brief hier könnte ich unzähligen, liebenswerten Menschen widmen und ich habe beschlossen, mich mit meinen Worten an dich zu richten. Vielleicht wirst du ihn sogar finden und lesen, es ist schliesslich das Internet, eine ganz eigene Welt – unendlich gross und doch winzig klein. Man findet hier Menschen gleicher Interessengruppen und mit Glück befinden sie sich nur ein paar Kilometer weit weg. Andere wiederum leben auf der anderen Seite der Erdkugel.

Nur liegen zwischen uns ein paar Kilometer zu viel. Einerseits ist das ein Vorteil, andererseits ein immenser Nachteil. Und je nach Sichtweise auf diese trockene Tatsache könnte man lachen oder weinen. Positiv gesehen, hat man so die Chance, sich nach und nach kennen zu lernen in einem Tempo, das man selbst bestimmt. Und ja, es macht mich mutiger, frecher und bestimmt dreister. Versteh mich nicht falsch, ich bin kein komplett sozial inkompetenter Mensch und kann meistens in Gesellschaften ganz gut agieren. Ab einem gewissen Punkt und in bestimmten Situationen will ich allerdings einfach nur fliehen..

Der springende Punkt und des Pudels Kern sind, dass diese Distanz eine quälende Wechselwirkung hat. Ja, der Kontakt findet nur mit einer intakten Internetverbindung statt, da wir noch nicht einmal Adressen für Briefpost ausgetauscht haben und man sich so abklemmen und sich wohlfühlen kann. Andererseits will ich dich treffen, direkt kennenlernen und zeigen, wie nichtmutig ich bin, entweder endlos quasselnd oder lange schweigend.

Ich mag dich wirklich sehr und die einzige Angst, die leider wirklich noch besteht, ist, dass du am Ende auch keinen Bock mehr auf Kontakt hast und du dich in eine immer länger werdende Liste von wunderbaren, vergangenen Freundschaften einreihen kannst. Manchmal glaube ich, dass das schneller der Fall sein wird, als mir lieb ist.

Bis dahin schreibe ich Briefe ohne Adresse und Absender, die du vielleicht irgendwann eines Tages in die Hand gedrückt bekommst, um sie zu lesen.

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