3.Wende

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Es ist dunkel geworden auf den Straßen und Alleen von Hier. Die Kälte nimmt zu, kriecht mir in meine Knochen und bringt mich zum Zittern. In der Ferne singt ein betrunkener Mann freudig ein Ständchen, worauf eine Frau anfängt zu kichern. Ich muss nun ein Nachtlager finden, denn mit dem Verschwinden der Sonne und dem Eintreten der Dunkelheit wird es gefährlich. Die Temperaturen sinken weit unter -50 °C und werden somit lebensbedrohlich und müsste man die Nacht draußen verbringen, hätte man keine Chance die Sonne je wieder zu erblicken. So laufe ich und schaue mich verzweifelt um, während sich die Kälte immer schärfer durch meine Lunge schneidet. Panik brach in mir aus, ich renne.

Bis ich an einer alten, verlassenen Kneipe vorbeikomme. Ich schaue von links nach rechts und greife in meine Jackentasche. Vorsichtig taste ich mich durch meine Sachen immer tiefer in meine Tasche hervor. Als ich schließlich eine glatte Rolle Paketklebestreifen herausziehe. Nun greife ich noch nach meinem Messer. Ich versuche ruhig zu atmen, wobei kleine Nebelwolken aus meinem Mund in den Himmel empor steigen und sich anschließend in der Dunkelheit auflösen. Ich beginne jetzt den Klebestreifen mit meinem Messer in Stücke zu schneiden und klebe diese auf das Fensterglas eines Kellerfensters der Kneipe. Als das erledigt ist, nehme ich wieder mein Messer zu Hand, sodass ich die Klinge in der Hand fest umklammert halte. Mit einem kräftigen Schlag des Messergriffes schlage ich das Fenster ein, wobei ich mich dank des Klebestreifens nicht schneide und weniger Lärm erzeuge.

Vorsichtig dringe ich nun in den Keller ein und sehe mich um. Ein Tisch, zwei Stühle und ein Kamin. Nichts Ungewöhnliches in Hier. Die Menschen haben ihre Schlafräumlichkeiten meist im Keller, da die Erde die Wärme einschloss und man so weniger heizen muss.

Ein bitterkalter Windzug streift meinen Nacken, ich beginne sofort zu zittern, meine Zähne schlagen unkontrolliert aufeinander. Wo ich hereinkam klafft jetzt ein Loch, durch das es schrecklich zieht. Ich versuche so gut wie möglich die Reste des Klebestreifens von dem Fenster zu entfernen, ohne mich dabei zu verletzen. Dann nehme ich wieder mein Paketklebeband und überklebe das Loch, Handaa, wie ich dieses Zeug doch liebe. Ich atme einmal tief durch und schließe dabei meine Augen, dann öffne ich sie wieder und bewege mich zum Kamin. Es zieht zwar nun nicht mehr, aber kalt ist es dennoch. Kurze Zeit später bemerke ich, dass kein Feuerholz zur Verfügung steht, während ich meine Füße und Hände schon nicht mehr spüre. Da kommt mir eine Idee, ich nehme einfach einen Stuhl und zerbreche ihn in kleine Stücke, nun lege ich 3 von diesen Scheiten in den Kamin und packe mein Feuerzeug aus, ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen.

Ich würde sagen zu früh gefreut, seit einer gefühlten viertel Stunde versuche ich nun schon diesen Stuhl in Flammen zu setzen, jedoch ohne Erfolg. Die Flamme des Feuerzeuges ist einfach zu klein, um groß genug das Holz anzuzünden. Schwer atmend vor Wut gebe ich auf und beginne meine Haare zu kämmen, schlafen konnte ich nun vergessen, zu groß die Gefahr zu erfrieren. Als ich fertig bin ziehe ich die ausgekämmten Haare aus der Bürste und beginne mit ihnen ein wenig zu spielen und zwirbel sie um meine kalten Finger. Dies tue ich allerdings nicht nur zum Spaß, sondern auch um meine Finger zu bewegen und um nicht einzuschlafen. Meine Gedanken kreisen durch den Raum, ich versuche ein wenig zu meditieren, mich so auf die Kälte zu konzentrieren, um mit ihr zu leben und zu atmen. Dies alles geschieht mit mäßigem Erfolg, ich kann mich einfach nicht konzentrieren und bekomme Kopfschmerzen. Stöhnend stehe ich auf, um mich ein wenig zu bewegen. Auf und ab gehe ich durch den Raum, meine Hände immer noch vertieft in das Spiel mit den Haaren.

Eine Idee küsst meinen Verstand. Ich schnappe mir meine Bürste erneut und beginne wild meine Haare zu bürsten, bis ich eine Hand voll der dünnen, kupferroten Seile in der Hand halte. Dann nehme ich den nächstbesten Holzscheit und hoble mit meinem Messer Holzspäne ab. Als nächstes mische ich die Haare mit dem Holzspan und verteile diese Mischung auf meinen Holzscheiten im Kamin. Erneut setze ich das Feuerzeug an, pustend versuche ich das Feuer zu nähren, damit es in Schwung kommt. Tatsächlich funktioniert dieser kleine Trick und die Holzscheite fangen Feuer. Ich rutsche so nah wie möglich an das Lodern heran und stecke meine Hände aus, wobei die Flammen beinahe meine Finger berühren. Ein Schauer läuft mir über den Rücken und erleichtert atme ich aus. Ich gebe noch ein paar Holzscheite nach, dann lege ich mich auf den Rücken.

Etwas Viereckiges bildet sich auf brusthöhe unter meiner Kutte ab und da kommt es wieder wie eine Wucht auf mich zu. Ich hatte heute ein Leben beendet, es war schon wieder passiert, die Verführung des Netzes war einfach zu stark für mich, die Bürde einfach zu schwer zu tragen. Ich greife mir in die Haare und reiße kräftig an ihnen, bis ich vor Schmerz aufschreie und die Tränen wieder kamen. Warum habe ich das getan, warum? Ich bin ein Monster, es wurde mir mit Recht die Zunge abgeschnitten.

Zu oft habe ich den Menschen das erzählt, was sie vergessen wollten und damit alte Wunden aufgerissen. Ich habe viele Seelen tief verletzt, schon als Kind. Doch irgendwann lief das Verletzen über die seelische Ebene hinaus, ich wurde physisch. Das Dorf stellte Theorien über das kleine 9-jährige Mädchen auf und war bald der Meinung, sie müsste das Kind des Zwillingsbruders von Handaa sein, Neleb, der Gott der Wahrheit, der Nacht, der Verletzten sowie Kranken und des Todes. So besagt es eine alte Erzählung um die Menschen davor zu bewahren, immer die Wahrheit zu sprechen, die nur Leid und Elend bringt, habe Handaa seinem Zwilling die Zunge abgeschnitten und die Wahrheit verließ somit die Menschen und diese Welt.

Ich will nun nicht mehr an die alten Kamellen zurückdenken. Aber eines musste ich mir eingestehen, nachdem ich keine Zunge mehr besaß, konnte ich die Verführung besser im Zaum halten.

Doch heute war es mal wieder soweit gewesen, ich habe diesen Stadtsoldaten getötet, schlimmer noch, ihn verbannt. Nachdenklich sehe ich in die Flammen, ich kann und will die Personen nicht vergessen, die durch mich starben und in Zukunft sterben werden. Ich ziehe meine Filzkutte aus und schiebe mein Hemd ein wenig hoch, 12 Narben zieren meinen Bauch, die letzte ein Jahr alt, ich war so stolz, doch heute müsste ich erneut das Messer ansetzen. Als ich mir über den Bauch schneide, ziehe ich scharf die Luft zwischen meinen Zähnen ein. Als das erledigt ist, fange ich an zu weinen, während ich noch ein paar Holzscheite auflege und mich anschließend verbinde. Nun will ich endlich schlafen und lege mich erneut auf den Boden, wieder in meine Kutte eingehüllt. Die Schnittwunde an meinem Bauch pochte immer noch und der Verband, den ich mir umgelegt habe, ist durchgeweicht. Doch auch nach langem Kampf kann ich einfach nicht schlafen und wenn, nur ein kurzes Dösen, welches sofort von den angsterfüllten Schreien des Soldaten unterbrochen wird.

Ich richte mich auf und halte dabei meinen Bauch. Um mich abzulenken, ziehe ich den Brief aus der Innentasche meiner Kutte und betrachte das gebrochene Siegel. Merkwürdig, es bildet einerseits die Hand von Handaa ab und andererseits liegt in Handaas Hand Nelebs Zunge.

Die Legende sagte doch: Als Handaa seinem Bruder die Zunge stahl, da tat er es über den großen Gewässern, den Neleb konnte nicht schwimmen und Handaa wollte die Wahrheit nicht berühren.

Ich öffne nun den Briefumschlag und hole den eigentlichen Brief heraus. Er ist handschriftlich in winziger, verschnörkelter Art und Weise auf das Papier gebannt. Nochmals lese ich nur für mich den Text in aller Ruhe durch. Filigrane Verzierungen schmücken den Papierrand, mit immer wiederkehrender Symbolik. Die Hand mit der Zunge und Störche, überall nur diese Störche. Was soll das nur bedeuten? Der Brief ist wirklich mehr als seltsam, Störche sind die Boten von Krankheit und Tod, deshalb wurden sie gejagt und ausgerottet. Die Hand ist Lüge, die Zunge Wahrheit, der Storch der Tod. Was will der Fürst nur damit sagen?

Außerdem stört mich noch, dass der Fürst von Hier sich um Leute wie mich kümmert. Sonst ist ihm illegaler Handel doch auch egal. Verbrechensbekämpfung zählt nur zu den Aufgaben der Soldaten, man bekommt für gewöhnlich keinen Brief vom Fürst. Ein weiteres Mal lese ich den Brief, achte auf jede Kleinigkeit, jede Unregelmäßigkeit. Alles scheint in perfekter Harmonie, aber dennoch ist alles grundlegend falsch und verwirrt mich um einiges. Stöhnend lege ich den Brief bei Seite, da meine Augen stechend zum Schlafen protestieren. Der Morgen bricht bereits an und die Straßen werden langsam wach.

Und mit dem Morgen treffe ich eine Entscheidung.

Name 269 (nicht überarbeitet)Where stories live. Discover now