1. gemähter Grashalm

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Wie vor jedem Auftritt musste meine Gitarre ausgerechnet kurz bevor ich auf die Bühne gehen sollte, ihren Geist aufgeben. Sei es durch eine gefatzte Saite, einen abgebrochenen Gitarrenhals oder Ähnliches. Das Ende vom Lied war jedenfalls immer, dass meine Band und ich ohne Gitarristen spielen mussten. Das erhöhte unseren sowieso schon geringen Erfolg natürlich nicht unbedingt.

Jesse, unser Drummer, der gerade meine gerissene Saite betrachtete, seufzte genervt auf und verdrehte die Augen, bevor er mich ziemlich angepisst anschaute.

„Warum, Ben? Warum schon wieder?"

„Wenn ich das wüsste, hätte ich definitiv ein Problem weniger", antwortete ich schulterzuckend und ging in den Flur, um einen Gitarristen von einer anderen Band zu fragen, ob er zufällig die passende Saite für mich hätte.

Ich klopfte an der Tür des Backstageraumes neben uns, in dem sich irgendeine Band aus alten Rockern befand. Wir traten zwar als ihre Vorband auf, sie hatten uns aber trotzdem spüren lassen, dass wir unerwünscht waren. Das interessierte mich jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht.

Auf ein „Herein", das wenig einladend klang, trat ich ein und fragte, wie schon so oft, nach einer Saite.

Natürlich hatte ich mal wieder Pech. Entweder hatten die beiden Gitarristen, die in der Band waren, tatsächlich keine Saiten dabei, oder aber, was wahrscheinlicher war, einfach keinen Bock, mir eine zu geben.

In ihren Augen musste ich der Abschaum schlechthin sein. Ein erfolgloser Musiker, der es nicht einmal auf einem seiner wenigen Gigs schaffte, ordentlich vorbereitet zu sein. Aber so war ich nun mal. Egal, wie viele Saiten ich mitgenommen hätte, alle wären gerissen. Da konnte ich mir das Geld auch sparen, denn so viel hatte ich davon nicht. Ich arbeitete zwar nebenher als Kellner, doch damit wurde man sicher nicht reich.

Trotz der Gewohnheit des Ganzen, war ich ein wenig niedergeschlagen, als ich in unseren Backstageraum zurückkehrte und meine ganze Band mich vorwurfsvoll ansah. Sie hatten ja recht mit ihren Blicken, ich war eine Katastrophe. Ich war vermutlich der schlechteste Musiker, den die Welt je gesehen hatte. Das änderte jedoch nichts daran, dass ich es liebte. Das Gefühl auf der Bühne zu stehen, zu singen und den Menschen Gefühle zu vermitteln, war einfach unschlagbar. Es machte mich glücklich. Musik machte ein fröhlich hüpfendes Energiebündel aus mir und war mein Leben. Ohne Musik könnte ich nicht.

Deswegen hatte ich so viele Dinge aufgegeben, also würde ich doch jetzt nicht bloß wegen einer gerissenen Saite diesen Auftritt absagen. Wir hatten das bisher immer irgendwie gemeistert, wir würden das auch dieses Mal hinbekommen. Das Einzige, was mich wunderte, war, warum sich die drei anderen noch keinen neuen Sänger und einen anderen Gitarristen gesucht hatten. Ich wusste, dass ich eine Katastrophe war und sie wussten es auch und trotzdem ertrugen sie meine Anwesenheit immer wieder. Dafür war ich ihnen unglaublich dankbar, auch wenn ich es niemals ausgesprochen hätte.

„Und was machen wir dieses Mal?", fragte Jesse gerade, als ich durch die Tür trat. Er wusste sofort, dass ich keine Saite bekommen hatte, wie fast immer. Die Menschen gaben mir keine. Vermutlich war ich ihrer Ansicht nach nicht würdig genug, mit einer ihrer Saiten zu spielen. Für die waren Jesse, Cole, Adam und ich sicher keine richtigen Musiker und schon dreimal keine Rockband.

Vielleicht hätte ich den Menschen einfach erzählen sollen, dass ich vor über einem Jahr noch Musikstudent gewesen war, in einem speziellen Programm für Hochbegabte, das noch zur Schulzeit begann. Ich hätte meinen Abschluss machen und gleichzeitig Musik studieren sollen. Aber ich hatte beides geschmissen, denn ein Musikstudium nahm der Musik die Seele, fand ich. Also hatte ich abgebrochen. Das war auch der Grund, warum ich bezweifelte, dass diese Information irgendetwas verändert hätte. Alte Rocker interessierte es doch einen Scheiß, was ich für Talente hatte, solange ich diese nicht zeigen konnte.

Ein Abend frisch gemähtes Gras | LESEPROBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt