PART ELEVEN

653 42 4
                                    

>REALITÄT<

23/11/2016 - 20:37 Uhr

Seitdem ich gutes Geld verdiente, waren auch die Restaurants, in denen ich essen ging, schicker geworden. Nicht mehr nur Pizzerien und Pommesbuden, sondern richtig feine Läden.

Otis und ich aßen in dem selben Laden auf der Terrasse, in den Paul mich an meinem ersten Tag im Verlag eingeladen hatte, zu Mittag.

Das Wetter war immer noch sonnig und mild, aber ich hatte mich seitdem verändert. Nicht nur wegen der neuen, teueren Klamotten, die ich trug, die sein mussten. Mein Gang, meine Gestik, meine ganze Haltung waren noch einmal viel selbstsicherer geworden, seit Wesley's Tod. Und das mit der Auf-der-Unterlippe-Rumkauen hatte auch aufgehört. Das passierte mir nur noch, wenn ich meinen Bruder traf.

Ich wusste auch warum. Mich beschlich das leichte Gefühl, zu etwas dazu zugehören. Einer Art Geheimgesellschaft, einem Bund, dessen Mitglieder mehr wissen als die anderen Menschen, die Normalen.

Deswegen waren doch diese ganzen Verschwörungstheorien so beliebt: Wer hatte Kennedy wirklich erschossen? War die NASA tatsächlich auf dem Mond? Und haben die Amis das World Trade Center nicht doch selbst in die Luft gejagt? Die offizielle Version ist immer langweiliger als der Glaube an irgendeine Verschwörung.

Wenn man das alles durchschaute, gehörte man zu einem kleinen eingeweihten Kreis, während der Rest sich mit irgendwelchen Lügen füttern ließ. Und wenn man dann noch zu dem viel kleineren Kreis gehörte, die sich solche Geschichten und Verschwörungstheorien ausdachten, steigerte sich dieses Gefühl in Richtung Unendlichkeit.

So ähnlich fühlte ich mich. Ich glaubte, ich hätte die Macht dazu, andere Menschen mit meinen Geschichten zu manipulieren. Das war verführerisch und man musste schon ziemlich gefestigt sein, um nicht völlig abzuheben. Oder man brauchte einen guten Boden, einen wie Jonathan.

Otis hatte so einen Boden. Keine Freundin, das hatte er mir gesagt. Sein Boden hieß nicht Tanja, Tina oder Sarah. Sein Boden hieß Geld. Für ihn war das alles nur ein gut bezahlter Job. Die Geschichten waren ihm egal, im Gegensatz zu mir. Aber das war nur meine bescheidene Meinung.

Mein Kollege saß mir gegenüber. Na ja, eigentlich hing er eher in seinem Stuhl, die Beine weit von sich gestreckt.

Die Kopfhörer baumelten um seinen Hals, während er irgendetwas in seinem Smartphone suchte und gleichzeitig an seiner Krokette knabberte, die zu seinem Steak serviert wurde. Das hatte er gleich nachgesalzen, ehe er auch nur einen Bissen probiert hatte. Mittlerweile achtete ich sogar angestrengt an die noch so kleinsten Kleinigkeiten.

»Wenn ich genug Kohle hab, kauf ich mir ein Boot. Im Norden habe ich mir schon eins angeguckt. Hat mal einem Zuhälter gehört. Geiles Teil. Damit schwimm ich einmal rund um die Welt.«, erklärte Otis mit vollem Mund, doch ich beschäftigte mich nur mit dem Wort Norden.

Im Norden von San Francisco lag nämlich die Golden Gate Brücke, von der Wesley gesprungen war.
»Kannst du überhaupt schwimmen?«, fragte ich und sah von meinem Salat auf.

Otis legte sein Handy zur Seite und widmete sich seinem Steak.
»Wozu gibt es Schwimmwesten?«, kauend fragte er,»Und? Wofür sparst du die ganzen Scheine von Paul?«

»Das Geld ist mir nicht wichtig.«, ja, ich brauchte es, aber Geld war nicht alles im Leben.

»Hör dir die an! Geld ist ihr nicht wichtig. Wo kommst du denn her? Ist dein Vater Milliardär?«

Wesley WalkerOù les histoires vivent. Découvrez maintenant