Kapitel 6

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~2 Monate später~

An Vater gelehnt stand sie da. Enobaria hatte die Spiele gewonnen, nun stand die Tour der Sieger an. Gemeinsam mit ihren Eltern musste sie auf einem der beiden Sockeln stehen, die für die Familien der verstorbenen Tribute vorgesehen waren.

Sie fürchtete sich sehr vor dem, was nun kommen würde, denn die Albträume, in denen ihr die Siegerin gegenüber stand, würden nun wahr werden. Das grausame Mädchen aus Distrikt 2 würde zu ihnen kommen.

Sie packte Vaters Hand und drückte sie ganz fest, denn nun konnte es nicht mehr lange dauern. Dieser hatte den anderen Arm um Mutter geschlungen, die seit Eastons Tod nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Sie aß nichts, außer man zwang sie dazu, auch trinken war nur auf diese Art möglich, wodurch sie sehr abgemagert war und scheinbar nur aus Haut und Knochen bestand.

Das Mädchen wusste, sie hatte bereits einmal auf diesem Sockel gestanden, damals wohl eher gelegen, vermutlich hatte Vater sie getragen, doch ihre Erinnerung daran war verblasst. Darüber war sie sehr froh, denn sonst würde sie vermutlich aussehen wie Mutter, und das wollte sie auf keinen Fall.

Plötzlich knackte es im Lautsprecher, eine Stimme verkündete: „Meine Damen und Herren, die Gewinnerin der 62. Hungerspiele! Enobaria Golding!"

Da war sie. Sie sah noch furchtbarer als im Fernsehen aus, so viel Brutalität lag in ihren Zügen, und ihr Blick schien zu sagen: Ihr seid alle ein nichts, wenn ich wollte könnte ich jedem einzelnen von euch die Kehle aufreißen.

Vermutlich stimmte das sogar.

Ängstlich drückte sich das Mädchen noch näher an Vater heran, der daraufhin beschützend den Arm um sie legte. Sie krallte ihre Finger fest in den Stoff seines blauen Hemdes und versteckte ihr Gesicht darin.

Von Enobarias Rede bekam sie nichts mit, doch als diese die Namen der beiden verstorbenen Tribute nannte, konnte sie den Blick der Siegerin beinahe auf ihrem Rücken spüren.

„Ich bedaure die Tode von Annabell und Easton zutiefst, waren doch beide meine Verbündeten, obwohl ich Annabell kaum kannte, die ja leider schon am Füllhorn von uns ging. Easton hingegen, mit ihm habe ich länger zusammengearbeitet. Es tut mir leid, dass er seine Eltern und seine junge Schwester zurücklassen musste."

So, wie sie es sagte, klang es gar nicht bedauernd, eher auswendig gelernt, und vor allem hatte ihre Stimme einen sehr gelangweilten Unterton. Diese beiden Menschen waren ihr egal gewesen, sie hatte sie gerne geopfert, um selbst den Ruhm zu bekommen. Das war dem Mädchen klar, und ihre Furcht vor Enobaria wuchs von Sekunde zu Sekunde. Diese Frau hätte vor nichts haltgemacht, um die Spiele zu gewinnen.

Kleine MeerjungfrauWhere stories live. Discover now