Kapitel 5

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~etwa 10 Tage später~

Sie saß zusammen mit ihrer Familie vor dem Fernseher. Es waren nun nur noch neun Tribute übrig, Easton war unter ihnen. Er hatte sich den Karrieros angeschlossen, ebenso wie Annabell, seine Distriktpartnerin. Diese war aber am Füllhorn sehr schwer verletzt worden, sodass sie verblutet war, kurz nachdem das Gemetzel geendet hatte.

Sie hatte furchtbare Angst um ihren Bruder, denn sie wusste, bald würde sich das Bündnis mit den Karrieros auflösen, dann gab es immer einen Kampf, bis nur noch einer übrig war. Die Namen der anderen hatte sie sich nicht gemerkt, nur das Mädchen aus Distrikt 2, eine große, schlanke Siebzehnjährige mit schwarzen Haaren, hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Enobaria hieß sie, und die Kleine fürchtete sich vor ihr, denn sie sah aus, als hätte sie viel Spaß am Töten. Sie folterte sämtliche Tribute, die ihr zum Opfer fielen, auf so eine grauenhafte Art und Weise, die ihr nie einfallen würde. Sie hoffte nur, dass Easton ihr nicht zum Opfer fiel.

Schon einige Nächte lang hatte sie geträumt, dass Enobaria aus dem Bildschirm herauskam, an ihr Bett, und sie lacht dabei. Es war ein grausames, hässliches Lachen, an dem man ihre Lust zu Morden hören konnte. Dann griff sie eines ihrer Messer, die sie immer bei sich trug, und hob es langsam über ihren Kopf. Mit einem Grinsen wollte sie es auf das Mädchen herabstoßen, dann wachte sie immer schreiend und schweißgebadet auf. Vater kam zu ihr ins Zimmer, er nahm sie in den Arm und murmelte ihr beruhigende Worte zu, dann legte er sich neben sie und blieb dort, bis sie wieder eingeschlafen war.

Sie war in Gedanken gewesen, sodass sie erst bemerkte, dass etwas geschehen war, als ihre Mutter neben ihr zu wimmern begann. Sie sah auf die Bildfläche und erkannte die Karrieros.

Gerade hörte sie ihren Bruder sagen: „Also ist es vorbei."

Dann ging es auch schon los. Der Junge aus 1 ging auf den aus 2 los, seine Distriktpartnerin nahm sich Easton vor. Nur Enobaria stand seelenruhig daneben und machte keine Anstalt einzugreifen, nein, stattdessen zog sie ein Messer nach dem anderen hervor, betrachtete es eingehend, bevor sie es zurück in den Gürtel steckte und ein Neues hervorholte.

Dann passierte es. Der Junge aus 2 stolperte über etwas am Boden, er fiel, dabei glitt ihm das Schwert, mit dem er gekämpft hatte, aus der Hand, und flog nach rechts, genau auf Easton und seine Gegnerin zu.

Es traf ihren Bruder in den linken Unterschenkel. Die Wunde war nicht lebensgefährlich, doch es überraschte ihn so sehr, dass er vornüber kippte. Sein Speer kam auf das Mädchen aus 1 zu, welche mit zwei Dolchen kämpfte. Sie versuchte dem Speer auszuweichen und sprang zur Seite, wodurch die Waffe ihren Distriktpartner durchbohrte, der kurz zuvor den Jungen aus 2 getötet hatte, welcher nach seinem Fall unbewaffnet am Boden gelegen hatte.

Da der Boden vom vielen Blut ganz glitschig war, rutschte auch Eastons Gegnerin aus, und drohte umzufallen. Sie streckte die Hände aus, um den Sturz abzufangen. Dabei streckte sie die Dolche von sich, welche nun genau auf ihren Bruder zukamen.

Gequält schrie dieser auf, als die beiden Klingen ihn durchbohrten, dann ertönte der Schuss der Kanone.

Bumm.

Easton Cresta aus Distrikt 4 war tot.

Ihr großer Bruder, der ihr immer geholfen hatte, der sie unterstützt hatte, war tot.

Er war tot. Nicht mehr da. Für immer weg.

Nie mehr würde er sie in der Abenddämmerung mit zum Strand nehmen, um zusammen zu schwimmen.

Und sie hatte sich nicht einmal verabschiedet.

Das letzte Mal hatte er sie umarmt, als er sich bei der Ernte in die Reihe der Siebzehnjährigen stellte.

Das letzte Mal hatte sie ihn da vor sich gesehen.

Die paar Mal im Fernsehen zählten für sie nicht.

Neben ihr schrie Mutter auf. Sie merkte, wie sie hysterisch um sich schlug, und immer wieder Eastons Namen rief. Dann stand Vater auf, hob Mutter hoch, und trug sie davon.

Am Rande bekam sie noch mit, wie Enobaria dem Mädchen aus 1 die Kehle mit den Zähnen aufriss, scheinbar war sie wütend, dass alle so schnell gestorben waren, niemand gequält wurde. Sie hörte einen neuen Kanonenschuss, für das Mädchen. Auch ihre Familie machte gerade das Selbe durch, sie mussten mit ansehen, wie ihre Tochter, ja vielleicht sogar Schwester, getötet wurde.

Das Mädchen sprang von dem Sessel, auf welchem sie gesessen hatte, auf, und rannte aus dem Haus. So schnell sie konnte lief sie auf die Bucht zu, in der ihre Geburtstagsfeier stattgefunden hatte. Damals war noch alles gut.

Da war Easton noch am Leben.

Das hatte sich jetzt mit einem Schlag geändert. Sie ließ sich in den Sand sinken, hielt sich die Hände vors Gesicht. Die Tränen kamen in Sturzbächen, sie schluchzte laut auf, der Sand unter ihr wurde ganz nass, doch das war ihr egal.

Easton war weg, einfach gegangen, für immer fort. Sie hatte nicht mehr mit ihm gesprochen.

Einen Moment lang hob sie den Kopf und blickte auf das Meer, das so ruhig da lag.

Auch das würde er nie mehr wiedersehen.

Sie stand auf und stapfte darauf zu. Einen Augenblick verweilte sie im seichten Wasser, ließ es ihre Knöcheln umspielen. Dann ging sie weiter, achtete nicht darauf, dass ihre Hose und die leichte Strickjacke, die sie trug, nass wurden, dachte nicht daran, dass der Stoff steif sein würde, nachdem er getrocknet war. War ja egal. Es waren nur Kleidungsstücke, materielle Dinge, ersetzbar.

Easton war nicht ersetzbar.

Bisher hatte sie nur gewagt so weit hinauszugehen, wie sie auch stehen konnte. Jetzt würde sich das ändern. Sie wusste von einigen älteren Kindern, dass es etwa dreihundert Meter vom Strand entfernt eine Sandbank gab. Dort wollte sie hin.

Auch Easton war oft dort gewesen.

Ein bisschen mulmig war ihr schon zumute, als sie sich immer weiter vom Strand entfernte. Schließlich konnte sie nur noch auf Zehenspitzen stehen, doch sie ging immer weiter. Immerhin war sie jetzt schon neun. Sie war kein Baby mehr. Sie war zu alt, um vor so etwas Angst zu haben.

Easton hatte auch keine Angst vor dem Wasser gehabt.

Nun konnte sie beinahe nicht mehr stehen. Also stieß sie sich ab und schwamm. Es tat so gut, übers Wasser zu gleiten, nicht mal die Wellen bereiteten ihr Probleme, denn das Meer war heute so ruhig wie schon lange nicht mehr. Als wollte es sagen: Es ist alles gut, was ist denn geschehen? Die Welt dreht sich weiter, ob mit einem Menschen mehr oder weniger, das macht doch keinen Unterschied, oder?

Langsam entspannte das Mädchen sich immer mehr. Schwimmen, ja, das konnte sie sehr gut. Die Züge waren ihr so vertraut, dass ihr Körper die Bewegungen von alleine machte, sie musst nicht einmal nachdenken.

Bis zur Sandbank war es weiter, als sie gedacht hatte, und schon überlegte sie, ob sie nicht lieber umkehren sollte, als ihr Knie an etwas stieß. Überrascht zuckte sie zurück, dann griff sie vorsichtig mit der Hand nach vorne. Tatsächlich, sie konnte die feinen Körner fühlen. Da war sie nun also, auf der berühmten Sandbank, von der die Älteren so schwärmten.

Es war wirklich wunderschön. Sie saß nun schon längere Zeit dort, und sah der Sonne beim Untergehen zu, die Beine hatte sie an den Körper gezogen, das Kinn auf die Knie gestützt, sodass ihr das Wasser bis knapp unter den Hals reichte.

Eigentlich hatte Easton Glück gehabt, sein Tod war schnell und, im Vergleich zu manchen anderen, auch relativ schmerzlos verlaufen. Das war gut.

Er würde trotzdem nicht mehr zurückkehren.

Kleine MeerjungfrauWhere stories live. Discover now