Kapitel 38

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Wie zu erwarten, war der Tattooladen geschlossen. Doch weniger als eine Minute nachdem Harry eine unscheinbare Klingel gedrückt hatte, ging die Tür auf. Mit der Person die vor uns stand, hätte ich niemals gerechnet. Der junge Mann, den Harry mit einem fröhlichen "Payno!" begrüßte und anschließend locker umarmte, konnte kaum älter sein als wir selbst. "Styles, dich hab ich ja ewig nicht mehr gesehen.", entgegnete er grinsend. Auf seinen Armen prangten ein paar Tattoos, wesentlich weniger als ich erwartet hatte. Nun wandte er sich an mich. "Und ich sehe, du hast jemanden mitgebracht." Weiterhin grinsend hielt er mir seine rechte Hand hin. "Ich bin Liam, freut mich dich kennenzulernen." Lächelnd griff ich nach seiner Hand. "Lizzy." Auch wenn ich mich mittlerweile wieder an meinen ganzen Namen gewöhnt hatte, war ich noch nicht bereit mich damit vorzustellen. Außerdem gefiel mir die Tatsache, dass nur Harry mich Eliza nannte. "Seid ihr...?" Liam ließ den Satz unbeendet und zeigte mit der Hand abwechselnd auf mich und Harry, welcher nickte. "Allerdings. Also versuch es gar nicht erst." Beide lachten und Liam öffnete die Tür weiter, sodass Harry und ich das Gebäude betreten konnten. 

Der Raum in dem wir uns nun befanden, sah aus wie ein typisches Wartezimmer, allerdings deutlich gemütlicher. Überall standen riesige Sessel und breite Sofas, an den Wänden hingen Fotografien von tätowierten Menschen und im Hintergrund lief kaum hörbare Musik. 

"Also gut, soll sie mit reinkommen?", fragte Liam und machte eine Kopfbewegung in meine Richtung. Harry schüttele ohne zu Zögern den Kopf. "Definitiv nicht. Es soll eine Art... Überraschung werden." Während die letzten beiden Worte seinen Mund verließen, zwinkerte er mir zu, woraufhin ich nur die Augen verdrehte. Innerlich hoffte ich, dass das was er im Auto gesagt hatte, tatsächlich ein Scherz gewesen war. So romantisch die Idee auch erscheinen mochte, Tattoos waren endgültig. Und sobald etwas, das unmittelbar mit mir zusammen hing, in seine Haut eingraviert wurde, waren wir wie durch unsichtbare Fesseln miteinander verbunden. Aus irgendeinem Grund machte diese Vorstellung mir mehr Angst, als ich für möglich gehalten hätte. 

Es war Liam, der mich aus meinen Gedanken riss. "Okay, dann mach du es dir hier einfach gemütlich, Wenn du Hunger oder Durst hast, dort drüben ist eine kleine Küche." Ich nickte und ging zu einem der Sofas. Harry lächelte mir ein letztes Mal zu, dann verschwand er mit Liam in einem weiteren Raum. Insgeheim war ich froh, dass ich die Möglichkeit hatte, hier draußen zu bleiben. Ich wusste, dass Tattoos keine schmerzfreie Angelegenheit waren und Harry leiden zu sehen, gehörte definitiv nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. 

Nachdem ich eine Weile in Gedanken versunken auf dem Sofa saß, stand ich schließlich auf und sah mich etwas intensiver im Raum um. Was mich am meisten faszinierte waren die schwarzweiß Fotografien, die die Wände schmückten. Frauen und Männer. Jung und alt. Große Tattoos. Kleine Tattoos. Harry.

Mit geweiteten Augen trat ich näher an das Bild heran. Obwohl sein Gesicht nicht zu sehen war, bestand keinerlei Zweifel. Ein gestreiftes Tuch hielt seine Locken zurück. Den Kopf hatte er so in seine Hände gestützt, dass sie sein Gesicht verbargen. Unter dem Ärmel seines weißen T-Shirts ragte eines meiner liebsten Tattoos hervor. Das Segelschiff. Daneben waren die Nägel zu erkennen, über deren Bedeutung ich noch nichts erfahren hatte. 

Das Bild war wuderschön und gleichzeitig unendlich traurig. Ich wusste, dass hinter seinen Tattoos keine schönen Erinnerungen steckten. Ich wusste, dass er innerlich noch immer gebrochen war. Egal wie sehr er es zu verstecken versuchte, ich wusste, dass auch er noch immer jeden Tag unter seiner Vergangenheit litt. Ohne dass ich es direkt bemerkte, schlichen sich ein paar Tränen auf mein Gesicht. Schnell wischte ich sie mit meiner Handfläche weg. Ja, Harry litt. Aber er war auf einem guten Weg. In den letzten Tagen, hatte er kaum eine Minute aufgehört zu lächeln und zu wissen, dass ich daran nicht ganz unschuldig war, brachte wiederum mich zum lächeln. 

Ich sah mir noch die restlichen Bilder an, dann ließ ich mich erneut auf das Sofa fallen und wartete darauf, dass die Tür sich wieder öffnete. Allerdings machte sich nun so langsam bemerkbar, wie wenig Schlaf ich in der letzten Nacht bekommen hatte. Ohne etwas dagegen tun zu können spürt ich, wie meine Augenlider immer schwerer wurden und schließlich komplett zufielen. 

Zwei Arme griffen unter meinen Körper und im nächsten Moment spürte ich, wie ich in die Luft gehoben wurde. Ich war zu müde um meine Augen zu öffnen, doch auch so wusste ich, dass es Harrys Arme waren. Er sagte irgendetwas, doch in meinem Halbschlaf konnte ich ihn nicht verstehen. Kurz danach war ich an der frischen Luft, jedoch nicht für lange. Wie genau er es hinbekam die Autotür zu öffnen, ohne mich fallen zu lassen wusste ich nicht, doch anstatt hartem Boden, spürte ich einen weichen Sitz unter mir. Ein dumpfer Knall signalisierte mir, dass Harry die Tür geschlossen hatte und nach einem noch etwas leiseren Knall, startete er den Motor. 

Ich wachte auf, bevor wir London erreicht hatten. Für eine Weile blieb ich stumm sitzen und beobachtete Harry. Sein Blick war auf die Straße gerichtet, sodass er nicht bemerkte, dass ich aufgewacht war. Erst als mir der weiße Verband an seinem rechten Handgelenk auffiel, richtete ich mich komplett auf. Aufgrund der abrupten Bewegung zuckte Harry zusammen. Doch innerhalb einer Sekunde hatte er sich wieder gesammelt. "Du bist wach.", stellte er lächelnd fest. Ohne darauf einzugehen fragte ich: "Was ist mit deiner Hand passiert?" Er runzelte die Stirn. "Und ich dachte, du seist erst im Tattooladen eingeschlafen..." Ich verdrehte grinsend die Augen. "Das meinte ich nicht... wieso der Verband?" Harry zuckte mit den Schultern. "Zur Sicherheit, damit kein Dreck rankommt und damit es sich nicht entzündet." Das machte Sinn. Vermutlich hätte ich auch selber darauf kommen können. "Und ich dachte ich dürfte es wenigstens jetzt direkt sehen.", murmelte ich enttäuscht. "Tja, ich bin rausgekommen um es dir zu zeigen, aber du hast leider geschlafen." - "Sag mir wenigstens was es ist!", bat ich, doch Harry schüttelte stur den Kopf. "Auf keinen Fall. Einen Tag musst du dich gedulden, dann kann ich den Verband abnehmen." Etwas enttäuscht lehnte ich mich wieder im Beifahrersitz zurück. Während die Landschaft an uns vorbeirauschte überlegte ich, ob ich ihn auf das Foto ansprechen sollte. Doch Stattdessen fragte ich etwas anderes: "Die Nägel an deinem Oberarm... haben die auch eine Bedeutung?" - "Jedes Tattoo hat eine Bedeutung.", antwortete er ohne die Miene zu verziehen. Ich wartete kurz, er schien jedoch nicht vorzuhaben, dem noch etwas hinzuzufügen. "Und was genau ist ihre Bedeutung?" 

Harry schwieg. Schließlich schüttelte er den Kopf. "Ich glaube nicht, dass du das wissen möchtest." - "Doch.", entgegnete ich kurz und knapp. Er runzelte die Stirn. "Eliza... diese Tattoos sind in einer Zeit entstanden, in der ich nicht klar denken konnte. Ich möchte dir keine Angst machen." Zögernd fuhr ich mit meiner Hand über seinen Arm. "Tust du nicht." Kopfschüttelnd seufzte er. "Meinetwegen. Hast du dir jemals vorgestellt, wie sich ein Messerstich anfühlt?" Ich wusste, dass es eine rhetorische Frage war, weshalb ich es vorzog nicht zu antworten. Es dauerte nicht lange bis er fortfuhr: "Ohne Zweifel äußerst schmerzhaft. Aber den Schmerz, den ich damals verspürt habe... das ist nicht mit mehreren tausend Messerstichen vergleichbar. Trotzdem hatte ich das... Bedürfnis, diesen Schmerz irgendwie zu verewigen. Wie der Name schon sagt, ist ein Messerstich ein einmaliger stechender Schmerz. Und genau das trifft es eben nicht. Ein Nagel jedoch wird gehämmert. Stück für Stück bohrt er sich ins Fleisch und bleibt dort. Für immer. Auch der dadurch entstehende Schmerz ist nicht vergleichbar mit den Dingen die ich gefühlt habe, aber es ist vermutlich näher dran als alles andere. Denn es dauert an. Dieser Schmerz verschwindet nicht. Niemals."

Sprachlos sah ich ihn an. Erst jetzt wurde mir ansatzweise klar, wie Harry sich seit fast einem Jahr fühlen musste. Und gleichzeitig wusste ich, dass hinter jedem der Tattoos, deren Bedeutung ich noch nicht kannte, eine ähnliche Geschichte steckte. Harry war wie ein Puzzle. Und erst wenn es mir gelang, alle Puzzleteile richtig zusammen zu setzen, hatte ich eine Chance, ihm zu helfen. 

DARK turns to LIGHTWhere stories live. Discover now