Gleisverschlingung

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Der Raum erfuhr eine kräftige Erschütterung, und der alte, komisch riechende Mann, der gerade an mir vorüberlief, wäre beinahe auf mich gefallen. Leicht angewidert wich ich seinem Arm aus, der den Griff an meinem Sitz fasste, und zog mein Bein ein, sodass er seinen Koffer vorüberziehen konnte. Noch einige Male wackelte alles, dann hatte die Bimmelbahn die Weichen vor dem Bahnhof passiert und schlich durch die Provinz.

Genervt lehnte ich mich zurück. Weshalb musste gerade meine ICE-Strecke umfallenden Bäumen zum Opfer fallen? Nun war ich zu Stunden des Herumtuckerns verdammt, inmitten dieser inzestverseuchten Prärie, die sich zwischen den Städten erstreckt. Hätte ich das gewusst, so hätte ich etwas anderes zu lesen dabei als die dünne Zeitung. Nach dieser reizte es mich gerade gar nicht, also fing ich an, die Menschen zu beobachten, die diesen Zug so dicht besetzten. Mein Vierersitz wäre von ihnen auch okkupiert geworden, aber mein Anzug und mein genervter Blick hatte sie alle verscheucht.
Im Vierer gegenüber saß eine Junggesellenabschiedsgesellschaft, deren Mitglieder allerdings alles andere als jung waren. Vier Männer, ausgestattet mit Bier, Schnaps und Mettbrötchen, grölten saufend herum. Der Gestank von Hopfen und Alkohol paarte sich mit der stickigen Luft in meiner Nase, und das Kind dieser unglücklichen Verbindung peinigte mich knapp bis zum Brechreiz. Die alten Säcke mit ihren pseudo-obszön bedruckten T-Shirts, ungepflegten Bärten und raugeschrieenen Stimmen waren für mich wie ein Unfall - ich wollte nicht hinblicken, konnte es aber nicht lassen. Noch ehe der Zug die Kleinstadt ganz verlassen hatte, zischten schon die nächsten Dosen Billigbier, sodass ein feiner Nebel Gerstenplörre durch den Gang schwebte. Er erreichte mich jedoch nicht, denn er wurde von einer gesichtslosen Masse an Kindern zerstäubt, die furiengleich kreischend zwischen den Sitzen hindurchstürmten, miteinander streitend, raufend, spielend. Der Lärm ließ meine müden Ohren vor Schmerz pfeifen, und selbst die Geräusche des Zuges hatten keine Chance gegen sie. Zu allem Unglück kämpfte sich durch das Geschrei auch noch eine verzweifelte, naive Stimme einer Dorfmutter, was unschwer an dem widerlichen Dialekt und der eigenartigen, alles in die Länge ziehenden Betonung erkennbar war. Als obendrein noch die beiden Mitreisenden hinter meinem Vierer auf eine eigenartig laute Art das Knutschen (vielleicht auch mehr) begannen, beschloss ich, geistig abzutreten.
Die Zeit verfloss hier nun sowieso sinnlos dahin, ob ich ihr dabei zuschaue oder nicht. Ich war nicht da, abwesend, mein Atem wurde ruhiger. Ich war keiner von ihnen, diesen gesichtslosen, animalischen Menschen, die sich das Hirn wegsaufen oder wie Ratten durch Röhren rennen, die sich wie die Fluten an meinem Fels brechen. Hier, in meiner kleinen Oase der Ruhe, die ich mir erstritten habe, konnte nichts meine Kreise stören. Für einen kurzen Moment war ich glücklich damit, allein bei mir selbst zu sein.

Eine Gruppe Reisender passierte mich, schwer vertieft in ihren lauten Unterhaltungen über irgendeine Dreiecksbeziehung, während ein bärtiger, nach Dachs riechender Mann in Markesportbekleidung sein in Lehm gehülltes Fahrrad hoch über unseren Köpfen durch den Zug schleppte, und unerfreulicher Weise kollidieren alle auf meiner Höhe. Ich nahm davon kaum Notiz. Plötzlich schlich sich eine winzige, schmächtige blasse Hand an meinem Sitz entlang und dann auf mein Bein. Abwesend starrte ich sie an, realisierte nicht ganz, woher sie kam, was sie zu bedeuten hatte. Ich neigte meinen Kopf leicht und kehrte langsam wieder aus meiner Versenkung in den Zug zurück, als ein schwaches, fast gebrochenes "Oh, Entschuldigung!" mein Ohr von links erreichte. Ein Wunder, dass es durch das Gezank der Frau mit der Strickzipfelmütze und dem Fahrradfahrer dringen konnte. Überrascht blickte ich nach links. Ich sah kleine, kinderblaue Augen unter hellblondem Haar, ein gänzlich unfertiges, aber in seiner Weichheit dennoch liebevolles Gesicht, eine zerbrechlich feine Nase und ein erschrocken offenstehender Mund. Selten habe ich mit Kindern mehr zu tun, als dass sie durch ihre ungezähmte Art meine Arbeit stören. Es bebte kurz, ohne dass wir eine Weiche passierten.
Das Gesicht des Kindes schrie vor Unschuld, und ich hauchte ihm noch "Kein Ding!" zu, ganz zärtlich, als könnte mein Atem es hinwegblasen - doch es war bereits weggerannt. Das kleine Gespenst war verschwunden, und ließ mich erschrocken zurück, eingeschüchtert von dieser Ahnung väterlicher Zuneigung in mir, die mir gänzlich unbekannt war.

GleisverschlingungWhere stories live. Discover now