Das Problem der Frau

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Laut war es auf dem Bahnhof. Laut und hektisch.
Jako stellte schnaufend seine Reisetasche ab und setzte sich auf die nicht besonders saubere Bank.
Dann nahm er einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher, den er mühsam hier her jongliert hatte, und stellte zu seiner Freude fest, dass das Getränk heiß war, frisch und gut.
Es tat gut, wie die aromatische Flüssigkeit seine Kehle hinab rann und ihn ein wenig aufmunterte.
Es half ihm, den Stress der vergangenen Woche ein klein wenig in den Griff zu kriegen.

Sein Zug würde bald kommen, um genau zu sein, in einer Viertelstunde.
Wie jeden zweiten Freitag wäre er dann ein paar Stunden auf der Bahn unterwegs, nach Süddeutschland, um seine Eltern zu besuchen. Diese Wochenenden waren anstrengend.
Die lange Zugfahrt. Wenig Zeit sich auszuruhen. Und dann sein Vater.
Ein halbes Jahr war es nun her, dass sein Vater diesen Schlaganfall gehabt hatte. Und seitdem ging es langsam bergauf. Stetig, aber sehr langsam, und die Ärzte hatten gesagt, dass er vermutlich nie wieder der alte werden würde. Er würde für den Rest des Lebens auf Hilfe Angewiesen sein, und das mit gerade mal sechzig Jahren ...
Es tat Jako jedes mal wieder weh, seinen Vater, der immer so stark und lebensfroh gewesen war, so zu erleben.
Aber auch um seine Mutter, die sich rührend um den Vater kümmerte und darüber oft genug ihre eigenen Bedürfnisse vergaß, sorgte er sich.

Er hatte vorgehabt, sein Studium abzubrechen und wieder von Berlin zurück in sein altes Heimatdorf zu ziehen, um für die Eltern da sein zu können.
Doch die hatten das vehement abgelehnt. Er solle sein eigenes Leben leben, hatten sie gesagt. Sie kämen schon zurecht, und sein Studium sei doch wichtig, das sei immerhin seine Zukunft. Außerdem hätte er doch inzwischen all seine Freunde in Berlin.
Er musste ehrlich zugeben, dass er dankbar und erleichtert gewesen war, denn das alles, was er sich in Berlin aufgebaut hatte, hinter sich zu lassen, wäre ihm doch sehr schwer gefallen.
Er liebte sein Leben hier, liebte auch sein Studium und schätzte seinen Freundeskreis.
Und so war er in Berlin geblieben, doch alle zwei Wochen fuhr er in die alte Heimat, Freitag hin und Sonntag zurück.
Diese ganze Sache hatte ihm bewusst gemacht, wie schnell ein Leben vorbei sein konnte, wie schnell es gehen konnte, einen geliebten Menschen zu verlieren. Er hatte Gott sei Dank den Vater nicht verloren, doch es war auf Messers Schneide gewesen. Und so war es ihm einfach wichtig, die Eltern regelmäßig zu sehen.

Das ganze war, zusammen mit dem Studium, das ihn forderte und dem Musikprojekt, das er mit seinem Freund und Mitbewohner Felix aufgebaut hatte, verdammt anstrengend. An den Elternwochenenden blieb viel Arbeit liegen, die er zu anderen Zeiten aufholen musste und er bekam zur Zeit nicht viel Erholung und Schlaf. Man sah es ihm auch an, er war blass und dünner geworden als sonst. Die Freunde, besonders Felix, machten sich Sorgen um ihn, doch natürlich konnten sie ihn auch verstehen. Die Liebe zu den Eltern ist eben etwas ganz besonderes, und er wollte für sie da sein, wie sie für ihn dagewesen waren, als er noch ein Kind war und es auch heute noch waren. Er hatte ihnen viel zu verdanken und wusste das zu schätzen.

Gerade als er seinen Kaffee leer getrunken hatte, wurde der Zug angesagt und tatsächlich, einen Augenblick später fuhr er in den Bahnhof ein. Jako nahm sein Ticket zu Hand, schulterte seine Tasche. Dann suchte er nach seiner Wagennummer. Na toll, der Zug war mal wieder genau anders herum zusammengestellt, wie die Weganstandsanzeige es verkündet hatte. Also hieß es, am ganzen Zug entlang hetzten. Er fand seinen Wagen und stieg ein. Es war voll und er war dankbar, dass er sich einen Platz reserviert hatte.
Er drängelte sich durch die Menschen hindurch bis zu seiner Platznummer, stopfte seine Tasche in das Gepäcknetz und bat die Dame, die seinen Platz besetzt hatte freundlich:
„Entschuldigen Sie, ich habe diesen Sitz reserviert."
Die Frau, eine Dame mittleren Alters dunklem, rotgesträhntem Friseurzeitschrift- frisiertem Haar und etwas zu viel Makeup, sah ihn verärgert an, und schien einen Augenblick abzuwarten, als hoffte sie, er würde den Rückzug antreten. Jako jedoch dachte nicht daran.
Grummelnd nahm sie ihren kleinen Koffer, den sie auf dem Sitz gegenüber platziert hatte, drückte ihn dem überraschten Jako in die Hände und sagte: "Na dann können sie wenigstens meinen Koffer nach oben packen!"
Jako zuckte mit den Schultern und wuchtete den Koffer, der erstaunlich schwer war, ebenfalls in die Gepäckablage.
Dann setzte er sich und die Frau setzte sich auf den auf diese Weise frei gewordenen Sitz gegenüber.
Noch immer warf sie ihm verärgerte Blicke zu.

Er nahm sein Handy zur Hand, stöpselte die kleinen Kopfhörer ein und suchte seine Lieblingsmusik. Kaum erschallten die ersten Klänge, schloss er die Augen und lehnte sich zurück.
Er genoss den Beat, die Harmonien, die Stimme des Sängers, die Worte.
Musik war seine Welt, nicht umsonst studierte er Musik und nicht umsonst hatte er mit Felix angefangen, ein Bandprojekt zu betreiben.
Die Klänge trugen ihn wie auf Wellen hinweg.
Er war so versunken, dass man hätte glauben können, dass er eingeschlafen wäre.
Er schlief aber nicht, er war einfach nur in eine andere Welt, seine eigene Welt eingetaucht.

Und so bekam er auch nicht mit, dass die muffelige Dame gegenüber sich kurz darauf nachdem der Zug eben angefahren war, dem nächsten Problem gegenüber sah, oder um genau zu sein, dem eigentlichen Inhaber des von ihr in Beschlag genommenen Sitzes.
Da sie nun keine Möglichkeit hatte, auf einen anderen Platz auszuweichen, denn es waren schlichtweg alle besetzt, zeigte sie sich überhaupt nicht kooperativ. Sie sah nicht ein, den Platz zu räumen und tat es erst unter Schimpfen und Kopfschütteln, als einige andere Fahrgäste sich einmischten und sie sich dem geballten Unwillen ihrer Mitreisenden und schließlich auch der Autorität des Schaffners gegenüber sah, der genau passend aufgetaucht war.

Jako sah uns hörte nichts davon, auch nicht, wie die Frau endlich abzog, nachdem sie sich, klischeehafter ging es schon gar nicht mehr, gebührend über die Unverschämtheit der Jugend von heute aufgeregt hatte.
Er tauchte erst wieder auf, als der Schaffner erneut durch den Zug kam und die Fahrausweise sehen wollte.
Er öffnete die Augen, und sein Blick fiel auf die strahlenden Augen des Problems der grummelnden Frau oder auch der unverschämten Jugend.
Und das erste, was Jako dachte war: unverschämt gutaussehend.

Trink das Leben in vollen Zügen!Where stories live. Discover now