1.2 Moíra - Schicksal

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„Gewiss nicht, junger Held", antwortete Tyche ihm lächelnd, aber er glaubte ihr nicht. „Wenn ihr das wärt, dann würden wir dem Sterblichen mit Namen Minos nicht so einfach gewähren lassen. Doch lasst uns nicht darüber reden."

Ihre Worte ergaben keinen Sinn, fand Taras, was die Wut in seinem Magen nur noch mehr nährte. Brennend heiß fraß sie sich durch seine Venen und die Spitzen seiner Finger zuckten bedrohlich.

Orion neben ihm wirkte auch so, als würde er jeden Moment sein Schwert auf die Göttin werfen oder ihr den Schild über die Kehle ziehen, damit ihr goldenes Blut den Boden tränken würde.

Tyche dagegen war ganz ruhig, fast schon gelangweilt. Ihr Blick allerdings brannte sich in seine Brust.

Er konnte nicht einmal sagen, welche Farbe ihre Augen hatten. Den einen Moment wirkten sie goldgelb, wie die Sonne. Nach dem nächsten Wimpernschlag waren sie kobaltblau. Danach wieder waldgrün. Tyche schien sich nicht entscheiden zu können, welche Farbe sie lieber mochte.

„Ich kenne den Mann, der dieses Bauwerk erschaffen hat", sagte die Göttin Tyche und erhob ihr Füllhorn. Irgendwas schien darin hin und her zu schwappen, doch Taras konnte keine Flüssigkeit erkennen. „Ja, Dädalus. Ein beeindruckender Baumeister." Tyche begann im Raum zu wandern, ließ ihren Blick schweifen, als würde sie all die glatten Steinbrocken einzeln betrachten wollen. „Er hat viele Bauwerke erschaffen, aber dieses Labyrinth ist wohl sein größter Erfolg, muss ich sagen. Mich faszinieren die unzähligen Gänge und all die Räume, die er erbaut hat. Auch ohne eine Funktion haben all die Räume ihre Berechtigung. Wisst ihr, junge Helden", ihr Blick war nun wieder auf Orion und Taras gerichtet, „der Minotaurus mag ein abscheuliches Wesen sein, aber die Menschen sind es auch."

Sie hob ihr Füllhorn noch höher in die Luft. Die Flügel flatterten nun wild darauf los und zappelten so sehr, dass das Horn zur Seite kippte, als sie es losließ. Einen Moment lang flatterte es in der Luft, dann schoss es bis zur Decke und eine Flüssigkeit, die weiß wie Schnee war, schwappte daraus auf den steinernen Boden. Aus den hellen Pfützen wuchs ein marmorner Tisch hervor und wäre Taras sich nicht sicher gewesen, dass er hellwach war, dann hätte er geglaubt, dass sein Geist ihm einen Streich während des Träumens spielte.

Der Marmortisch war so schön, als wäre er aus einem Königssaal des Königs von Athen hergetragen worden. Tyche beachtete ihn allerdings nicht. Sie schien nicht einmal daran interessiert zu sein, dass dort soeben ein Gegenstand aus dem Nichts erschienen war. Stattdessen betrachtete sie die Wand und fuhr mit ihren langen Fingern über die Steine, die trotz ihrer Perfektion nichts Besonderes boten.

Nach einem weiteren Schlenker des Füllhorns in der Luft fielen einige Tropfen der weißen Flüssigkeit auf den Tisch.

Vor Schreck wich Taras zurück, als es zu zischen begann, so, als wenn kaltes Wasser auf heißen Stein gegossen worden wäre.

Sein Bruder schob sich langsam vor ihn, als wolle er ihn vor dem Tisch beschützen, oder als hätte er Sorge, Tyche könnte jeden Moment lange Krallen ausfahren und sie angreifen.

Aigis allerdings schien viel zu fasziniert von dem Geschehen zu sein, als dass sie Angst haben könnte, von der Göttin in kleine Stücke zerrissen zu werden.

„So einfach und doch so schön", sagte Tyche und blieb bei einer Fuge zwischen den Steinen hängen. Das Fauchen der rätselhaften Flüssigkeit auf dem Tisch hatte aufgehört und die weißen Tropfen hatten sich in Platten voll mit Speisen verwandelt. Fleisch, Obst, Brot, Amphoren voller Getränke – so reichhaltig, dass es sich in Bergen auf dem Tisch auftürmte und drohte hinunterzufallen.

Taras bemerkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief und wie er, ohne es gewollt zu haben, einen halben Schritt auf den Akt der Magie zugelaufen war. Jeder dieser Braten sah saftiger als der andere aus, jedes Obst reifer und jedes Getränk noch süßer, als dass es je ein Sterblicher herstellen konnte. Dies mussten die Speisen der Götter sein, dachte Taras. Etwas in ihm wollte einfach nach vorne laufen und sich den Bauch vollschlagen und nie wieder aufhören zu essen.

LavýrinthosWhere stories live. Discover now