1.2 Moíra - Schicksal

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„Mein Name ist Tyche", sagte die Frau und Taras' ganzer Körper fühlte sich beim Klang ihrer Stimme an, als begänne er zu vibrieren.

„Die Göttin des Glücks", hauchte Aigis leise, doch er konnte sie so klar vernehmen, als würde sie direkt in sein Ohr sprechen.

„Richtig." Unglaube machte sich in ihm breit und obwohl er die Augen nicht von ihrem wunderschönen Äußeren wenden konnte, obwohl diese Frau eine Ausstrahlung besaß, die er sich keinesfalls erklären konnte und obwohl sie noch einen Moment zuvor aus purem Licht vor ihm erschienen war, hatte er noch nicht das Gefühl, dass diese Frau eine Gottheit war.

„Es ist gut, dass du nicht glaubst, was sein könnte", sprach sie und wandte ihm das hübsche Gesicht zu. „Aber du kannst die Wahrheit sehen, wenn du nur genau hinsiehst, mein junger Held."

„Was - ", fing Orion an, doch er brach ab, den Mund offenstehend.

Tatsächlich war auch Taras sprachlos.

Die angebliche Göttin Tyche war auf eine wahnsinnige Größe gewachsen. Ihr Kopf war in den Schatten verschwunden und ihre Füße, die in weißen, sauberen Sandalen steckten, waren größer als er selber. Hitze umgab die Frau mit einem Mal, der Schweiß stand ihm sofort auf der Stirn. Er wich zurück, atmete erschrocken ein, als sein Rücken die Bronzetür berührte. Ohne es festzustellen, war er am Ende des Raumes angelangt. Der Fluchtweg war ihm versperrt und das kalte Metall fraß sich durch sein dünnes, schweißgetränktes Hemd. Doch wohin sollte er schon flüchten, mit einer Göttin vor seinen Augen? Der Kloß kehrte in seinen Hals zurück und er krallte die freie Hand in seinen Oberschenkel, den brennenden Schmerz seiner Fingernägel im Fleisch ignorierend.

„Wirst du mir nun glauben, junger Held?" Tyche war nach einem Wimpernschlag wieder auf ihre ursprüngliche Größe geschrumpft. Sie lächelte und blickte zufrieden drein. „Verzage aber nicht. Die größten Helden glauben nicht alles, was sie mit ihrem sterblichen Auge sehen."

„Was macht Ihr hier?", fragte Aigis und trat einen zögerlichen Schritt nach vorne. Trotz der Angst, die auf ihrem Gesicht abzulesen war, schien ihre Neugier und ihre Achtung vor der Göttin stärker zu sein.

„Ob ich es schon verraten sollte?", fragte die Göttin sich selbst und blickte auf ihr Füllhorn mit den zappelnden Flügeln. „Du musst eines wissen, mein Kind: Wir Götter mischen uns nicht oft in die Belange der Menschen ein. Ihr lebt euer Leben und wir das unsere, aber wenn ich eines sagen kann, dann, dass wir manchmal dennoch mit euch interferieren. Nicht immer wisst ihr Sterblichen allerdings, dass es die Götter sind, die eure Wege kreuzen."

„I-ich verstehe das nicht", sagte Aigis und trat sogar noch einen Schritt vor.

Taras bewunderte sie für ihren Mut, dass sie der Göttin so direkt ins Gesicht blickte und sie direkt ansprach, als wäre sie nichts Besonderes. Aber vielleicht handelte es sich nicht um Mut, sondern um einfache Dummheit.

„Das musst du nicht, mein Kind."

Taras fiel auf, dass sie sie nicht wie ihn und Orion als 'Held' ansprach.

„Du musst nur wissen, dass Götter nicht immer nur auf dem Olymp sitzen. Auch wir haben einige Dinge, die wir in der Welt der Sterblichen verrichten. Ich kann nicht für alle sprechen", fügte Tyche hinzu und ihr Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen, „aber die meisten unseres Geschlechts lechzen nach aller Art von Unterhaltung, die wir bekommen können."

„Also sind wir nicht mehr als ein Unterhaltungsprogramm?", fragte Taras mit vor Angst zitternder Stimme und dennoch hatte sich Wut in seinem Magen aufgestaut. Seine Hände wurden schwitzig und er musste seinen Griff um das kaputte Schwert noch einmal festigen, damit es ihm nicht aus den Fingern rutschte.

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