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"Geht es dir nicht gut?" fragte Noels Mutter, als sie ihrem Sohn in die geröteten Augen sah.

"Nein", entgegnete er und bemühte sich, genau auf seine Formulierungen zu achten, denn er hatte seine Mutter gern und mochte es nicht, sie anzulügen.

"Die Augen tun mir weh."

Das war nicht gelogen, denn er hatte die halbe Nacht an seinem Handy gezockt, und das grelle Morgenlicht brannte wie ein Messer in seinen Augen.

"Und der Kopf auch?"

Ganz hinten in seinem Schädel fühlte Noel ein dumpfes Drücken, also war "Der Kopf tut auch weh, Mama" eine ehrliche Antwort, entschied er.

"Armer kleiner Hase. Du hast bestimmt eine dicke Erkältung. Besser, du bleibst heute zu Hause, sonst steckst du noch die anderen Kinder an. Ich bringe dir dein Frühstück rauf."

Noels Mutter war Lehrerin und musste immer pünktlich fort, aber sie fand trotzdem stets Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern, ihnen Schulbrote zu schmieren, Obst klein zu schneiden und dafür zu sorgen, dass sie nicht aus dem Haus gingen ohne gegessen und getrunken zu haben.

Der Vater war schon lange in der Arbeit und würde erst am Abend wieder kommen. Noel stand also ein herrlicher, pflicht- und schulfreier Tag bevor. Nur dumm, dass er sich ein wenig schuldig fühlte.

Aber er nahm sich fest vor, am Nachmittag seinen Freund Paul um die Hausaufgaben zu bitten, und dann vorbildlich die ganzen Schulaufgaben nachzuarbeiten. Nur den Vormittag wollte er sich noch zum Handy spielen gönnen.

Mama brachte ihm einen Pfefferminztee mit Honig und ein Salamibrot vorbei, die sie ihm auf den Tisch neben seinem Bett stellte. Fast hätte sie dabei das Ladegerät gesehen, an dem das Handy hing, und vielleicht wäre ihr dann aufgefallen, dass das Handy nicht wie vereinbart über Nacht unten in der Küche gelegen hatte.

Aber sie war selber viel zu sehr in Eile. "Alles OK, mein Schatz?", fragte sie und drückte ihren Sohn kräftig.

Noel bekam vor schlechtem Gewissen einen dicken Kloß im Hals, was ihn noch kränker aussehen ließ. "Es geht schon wieder etwas besser, Mama."

"Ach, ruh' dich aus, mein tapferer Sohn. Um zwei bin ich zurück. Ich hab' dir Papas Autozeitung auf den Nachttisch gelegt. Die liest du doch immer so gerne."

Mit der dampfenden Teetasse in der Hand blickte Noel in den Garten. Seine Schwester war in der Schule, Mama und Papa waren fort. Unten in dem winzigen Garten lag eine angegraute sulzige Schicht Schneematsch auf Rasen und Terrasse. Ein hässlicher Plastik-Schneemann mit Energiesparlampe darin leuchtete noch und hatte einen grünbraunen matschigen Rasenkreis um sich herum frei geschmolzen. Das Futterhäuschen für die Vögel war fast leer gefressen und von einem Kreis aus Sonnenblumenspelzen und verstreuten Weizenkörnern umgeben. Einige winzige vierzehige Fußabdrücke im Matsch zeigten an, wo am Morgen bereits Vögel gelandet waren und die heruntergefallenen Reste nach Essbarem durchsucht hatten.

Noel musste wirklich sehr müde gewesen sein, denn fast gruselte er sich ein wenig. Bestimmt waren auch die Nachbarn zur Linken weg. Der Mann war Handwerker und mit seinem Gesellen schon lange zu den ersten Kunden gefahren. Seine Frau war Krankenschwester oder so etwas ähnliches und am Morgen gegen halb sechs weggefahren, kurz bevor Noel vor Erschöpfung eingenickt war.

Die Nachbarin auf der anderen Seite war vielleicht da, Frau Mührmann, aber die war immer ein wenig merkwürdig. Sie sah aus, "wie jemand, der zum Lachen in den Keller geht", sagte Mama immer, und manchmal bewegte sie sich auch ganz merkwürdig, steif und staksend, eher wie ein Storch als wie ein Mensch. Also mit Frau Mührmann als einzigem Menschen in Rufweite war fast noch schlimmer, als ganz ohne Nachbarn.

In seinem Spiel hatte er die halbe Nacht gezockt, um eine Erweiterung aufbauen zu können, und es war noch zu früh, als dass die fertig war. Dann hatte er aus Langeweile, und weil es eh schon zu spät zum Ausschlafen gewesen war, angefangen, neue Apps zu installieren und auszutesten. Die meisten waren Müll gewesen, aber Jamie hatte ihm noch per Messenger ein Quizzspiel empfohlen, das hatte ganz witzig ausgesehen.

Man musste Fragen beantworten und Aufgaben erfüllen, dann kam man weiter.

Manche Fragen waren komisch gewesen, so Sachen, wie die Frage, welches Mädchen er am liebsten mochte, und ob er sie schon mal geküsst hätte. Mädchen waren doof, das wusste doch jeder, und Küssen war toootal unhygienisch, richtig widerlich. Eigentlich hatte Noel die Frage wegdrücken wollen, aber das ging nicht, und so hatte er Unsinn eingegeben. Dass er Leonie toll fände, und dass er sie gerne küssen würde, aber noch nie geküsst hätte. Erst dann hatte er weiter spielen können.

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