Seine Finger rochen noch nach dem Rinderbraten, den er hungrig in sich hinein gestopft hatte. Charlotte hatte derweil den Kleiderschrank ihres Vaters durchforstet und ihm ein sauberes Hemd, Jacket, Hose und einen Zylinder heraus gesucht. Ein bisschen Wasser und Seife taten ihr übriges.

Die junge Frau fuhr mit ihren zarten Fingern über seine Gesichtszüge, ihre Berührung waren so leicht wie die eines Schmetterlingsflügels. Zärtlich strich sie durch sein Haar und setzte ihm dann in einer kecken Bewegung den Zylinder auf den Kopf.

"Los geht's!", quietschte sie fidel und zog ihn an seiner Hand hinter sich her ins Freie.

Eine der vielen Kutschen brachte sie von Mayfair herunter ans Ufer der Themse. Sie fuhren durch Straßen voller Pferdescheiße und Menschen. Die Luft schien nie ganz  klar, stets lag der Ruß der vielen Fabriken in der Luft. Seit die industrielle Revolution begonnen hatte, fiel das Atmen in London schwerer. Nun, ihm nicht wirklich. Er war eine übernatürliche Kreatur, er brauchte keine Luft zum Atmen. Und dennoch war es so eine Angewohnheit. Auch, weil Atmen menschlich aussah und ihn weniger auffallen ließ. Und nach Jahrhunderten der Aufmerksamkeit genoss er es sehr, nicht allzu sehr aufzufallen.

Chernobog reichte der blinden jungen Dame eine Hand und half ihr aus der Kutsche. Dann platzierte er ihre Hand in seiner Armbeuge und sah sie fragend an - was sie gewiss nicht sah, aber dennoch bemerkte.

"Ich möchte zur Themse und dann durch die Whitehall Gardens. Also los, ich habe leichte Orientierungsschwierigkeiten, wie du weißt.", sagte sie in einem leicht schnippischen Ton.

"Nun gut, dann los."

"Aber nicht zu schnell! Ich will es ja auch genießen."

"Wie die Dame wünscht." Der Engel seufzte und setzte sich bedeutend langsam in Bewegung.


Es war bereits Abend als sie wieder zurück waren. Doch offensichtlich hatte niemand Charlottes Abwesendheit bemerkt, denn niemand vom Hauspersonal kam ihnen panisch entgegen.

"Wir sehen uns später. Ich habe noch zu tun.", sagte er kurz bevor sie die Tür erreichten. Und ehe sie etwas erwidern konnte war er verschwunden. Zwei kräftige Schwingen auf seinem Rücken beförderten ihn mit drei Schlägen auf die Dächer der Stadt. Alles, was noch an ihn erinnerte, war eine kleine braune Feder, die in schwingenden Bewegungen zu Boden sank.

Geschickt setzten seine Füße auf den Ziegeln einer Gaube auf. Von hier aus hatte man eine gute Sicht auf die Umgebung und erspähte eine Gefahr bereits, bevor sie zu einer wirklichen Gefahr wurde. Charlotte war nie bewusst, welches Risiko sie einging, wenn sie mit ihm unterwegs war. Sie hielt ihn mehr für ihren Schutzengel, für ein Spielzeug. Doch in Wirklichkeit war sie eine Art menschliches Schutzschild für ihn. Michael würde ihn niemals angreifen, wenn er einen Menschen gefährden würde. Doch für die andere Seite spielte es keine Rolle. Sie würden ihn jagen. Koste es, was es wolle.

Es war ein Geräusch, wie der Einschlag eines Kometen. Von solcher Macht und Kraft, dass die Luft zu vibrieren schien. Chernobog fühlte sich, als hätte ihn ein Blitz mit seiner vollen Macht getroffen. Er taumelte, konnte im letzten Moment mit einem leichten Flügelschlag seinen Fall verhindern.

Gleißendes Licht blendete ihn, doch als er sich daran gewöhnte, erkannte er die Gestalt. Auf dem First des Daches, etwas zwei Meter über ihm, saß ein Erzengel. Beinahe lässig lehnte er mit dem Rücken gegen den Schornstein, hatte ein Bein angewinkelt, das andere baumelte am Dach herunter.

"Es ist lange her, mein Freund. Und wie ich sehe, hast du deine Lage noch immer nicht überdacht." Die Stimme des Erzengels hallte in seinen Ohren wider, sie war tief und triefte nur so von göttlicher Macht.

"Michael. Gerade habe ich noch an dich gedacht. Ich dachte: Mensch, wie mag es meinem alten Kumpel Michael bloß gehen? Wann haben wir uns zuletzt gesehen? Als die Ägypter für dich und deinen Kumpel mit dem Gestaltwandlerproblem eine Pyramide gebaut haben? Was war es noch gleich? Ein Hund oder eine Hyäne?"

"Es war ein Kojote..." Der Erzengel seufzte. "Du scheinst dich wirklich kaum verändert zu haben."

"Du schon. Ich komm nur nicht drauf... Doch! Neue Frisur! Diese blonde Wallemähne ist aber auch einfach nicht mehr zeitgemäß. Steht dir echt gut so." Chernobog blubberte nervös vor sich hin, während ein anderer Teil seines Verstands bereits alle Fluchtmöglichkeiten abwog. Er hatte sich hier sicher gefühlt, wegen Charlotte. Doch das schien Michael herzlich wenig zu kümmern.

"Schweig still, Engel! Ich bin nicht hier, um über meine Frisur zu reden!", herrschte er ihn an. Das unterbrach sowohl den Denk- als auch den Redefluss. "Ich bin nicht hier, um dich zu töten. Ich benötige deine Dienste. Als Austausch dafür gewähre ich dir zwei Jahrhunderte Frieden. Zumindest von meiner Seite aus."

"Zwei Jahrhunderte?! Nun, das klingt so als wäre es wahrscheinlicher, dass ich bei diesem Auftrag meinem unendlichen Leben ein Ende setze, als dass ich diese zwei Jahrhunderte wirklich erleben darf." Er schnaubte verächtlich. Da spielte er lieber weiterhin Katz und Maus mit beiden Seiten.

"Nun, einen neuen Erzengel zu töten ist tatsächlich keine allzu leichte Aufgabe. Doch du bist unsere einzige Chance!"

"Erzengel. Töten. Ja, nee, also nicht mit mir. Vergiss es, Michael!" Kopfschüttelnd drehte er sich um und setzte zum Abflug an. Doch er konnte seine Flügel nicht bewegen, so sehr er es auch versuchte. Verfluchte Erzengel-Tricks! "Genau deswegen mache ich das nicht. Ihr habt ein bisschen mehr drauf als ich."

"Das ist doch nun wirklich meine leichteste Übung." Mit einem Nicken gab er seine Flügel wieder frei. Chernobog hasste es, wenn jemand in seinem Kopf war. "Aber Camael ist noch nicht so weit. Sie ist stark, aber sie ist unerfahren. Ich kann sie nicht töten. Sie... ich habe sie ausgebildet. Sie war meine Schülerin und jetzt habe ich sie verloren an die... Gefallenen." Es schien ihm sichtlich schwer zu fallen, diesen Namen auszusprechen. Sie. Sie hatten viele Namen. Gefallene, dunkle Engel, Lucifers Anhänger, Dämonen... Sie waren wie der eine Onkel, der sein ganzes Erbe am Pokertisch verprasst hatte und über den man nur ungern sprach. Nur, dass sie eine reale Bedrohung von beinahe apokalyptischem Ausmaß waren. Und nun hatten sie eine starke Kriegerin mehr.

"Kannst du sie nicht einfach leben lassen, wenn sie so klein und unbedeutend ist?"

"Nein."

"Wieso?"

"Geht dich nichts an." In den blauen Augen des Erzengels zeichnete sich etwas ab. War es... Trauer?

"Oh, ok, also ziehe ich für etwas in einen höchst gefährliches Kampf, von dem ich nichts weiß. Wenn es sonst nichts ist."

"Sie war... meine Gefährtin. Sie hat eine Bindung zu mir! Diese Bindung muss durchtrennt werden und das geht nur, wenn sie stirbt!", brauste Michael auf und seine grelle Aura schien zu pulsieren wie ein schlagendes Herz. Es kostete Chernobog Kraft, sich nur in seiner Nähe aufzuhalten, geschweige denn, ihn anzusehen.

"Alles klar, beruhig' dich!", knurrte er den Erzengel an. In seinem Inneren sprang ihm der Wolf, der in ihm schlummerte, zur Seite. Er verlieh ihm Kraft, verlangte jedoch auch einen Preis. Fangzähne bohrten sich in seine Lippen, sein Kiefer begann unter der einsetzenden Verwandlung zu schmerzen.

"Ein Bote wird dir alle weiteren Informationen überbringen. Töte ihn, wenn du willst. Wenn nicht, muss ich es tun."

Mit dem gleichen Donnerschlag, mit dem Michael gekommen war, verschwand er wieder. Und hinterließ alles so, als wäre nichts geschehen. Einzig der Himmel verdunkelte sich wieder. Und langsam, ganz langsam begannen Regentropfen herab zu fallen bis sie sich zu einem ausgewachsenen Londoner Regen verdichteten. Doch Chernobog spürte ihn kaum, so aufgeladen war er noch von der Macht und dem Auftrag, den er erhalten hatte.

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⏰ Last updated: May 26, 2018 ⏰

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