„Schließe dich", flüstere ich dem Buch kaum hörbar zu. Nach wenigen Sekunden beginnt der Ledereinband des Buches zu knirschen und fällt schließlich mit einem dumpfen Knall zu.
Morgan und ich bleiben wie angewurzelt neben dem Tisch stehen, offensichtlich sind wir beide mit der unerwarteten Situation überfordert.

Zunächst kann ich Morgans Flüstern nicht entziffern, doch sie wiederholt sich noch einmal, nun etwas lauter. „Du bist eine Animatorin. Du bist eine verdammte Animatorin!", stellt sie mit einer Mischung aus Freunde und Entsetzen fest. Ich schlucke kurz und versuche vergeblich meine Gedanken zu sammeln.
„Ich bin eine Animatorin", wiederhole ich, unfähig einen eigenen Satz zu formen.
Morgan sieht mich mit offenem Mund an und läuft sich mit ihren Händen durch ihre schwarzen langen Haare. „Wann wolltest du mir davon erzählen?"
„Ich wusste es bis gerade eben selber nicht", erkläre ich und wedle mit meinen Armen in der Luft.
„Aber heute ist doch nicht dein Geburtstag, wieso zeigst du erst jetzt Anzeichen?"
„Ich bin adoptiert", ist das einzige, was ich nach ihrer Frage herausbringe.

Einige Minuten später, nachdem wir uns genug beruhigt haben, um klar denken zu können, streifen wir beide ziellos durch die antike Bibliothek.
„Du musst das melden. Jeder, der eine der Gaben besitzt, muss sich ausbilden lassen", setzt Morgan plötzlich in die Stille.
„Aber ich will hier nicht weg. Schwer zu glauben, aber mir gefällt es hier." Trotz der Situation bringt Morgan das zum Lachen.
„Willst du nicht zu deinem Bruder?", fragt sie wieder ernst „Kalia, du kannst das nicht verheimlichen. Du brauchst Training. Wer weiß, was sonst passieren könnte. Deine Fähigkeit könnte außer Kontrolle geraten."
„Ich weiß ja, dass du Recht hast, aber ich will trotzdem nicht weg", gestehe ich.

Morgan kommt auf mich zu und sieht mich mit ihren vertrauten gelbgrünen Augen an. „Wenn du willst kann ich mit dir zur Prinzessin gehen, sodass ihr darüber reden könnt. Ich stimme ihr mit einem Nicken zu.

Da ich im Moment nicht wirklich dazu in der Lage bin, klopft Morgan für mich auf die Tür der Prinzessin. Von der anderen Seite hört man ein gedämpftes „Herein", also öffnet Morgan die Tür vor mir. Sie tritt herein und zieht mich hinter ihr her. Die Prinzessin hat es sich auf ihrem Sofa mit einem Buch und einer Tasse Tee bequem gemacht. Als sich unsere Schritte nähern, hebt sie ihren Kopf und runzelt ihre Stirn.
„Kalia? Was machst du denn hier? Du hast noch bis heute Abend frei."
Nicht in der Lage die richtigen Worte zu finden, fange ich an hilflos herumzustottern bis mich Morgan endlich unterbricht. „Eure Hoheit", beginnt sie zögerlich, „Kalia und ich waren eben in der Bibliothek. Und, naja, da ist etwas passiert, was Ihr vielleicht lieber wissen solltet."

Verdutzt legt Valaia ihr Buch auf die Seite und deutet uns auf dem anderen Sofa Platz zu nehmen.
„Okay. Was sollte ich denn lieber wissen?", fragt sie verwirrt.

„Nun ja-", beginnt Morgan, doch ich unterbreche sie. „Ich bin eine Animatorin", platzt aus mir heraus.
„Wie bitte?", fragt die Prinzessin.
Ich weiß nicht ganz wo ich beginnen soll, also fange ich einfach irgendwo an.
„Wie du weißt, wurde ich als Baby ausgesetzt, daher wusste ich auch nie mein echtes Geburtsdatum. Und in den letzten Tagen hatte ich ständig Kopfschmerzen und mir war immer schwindelig. Heute waren Morgan und ich in der Bücherei und als ich dann anfing ein Buch zu lesen, hatte ich plötzlich das Bedürfnis ihm Befehle zu erteilen. Also habe ich dem Buch schließlich befohlen, umzublättern und es hat tatsächlich funktioniert."

„Ehm." Das war das erste Mal, dass ich die Prinzessin sprachlos sehe. „Was genau willst du mir damit sagen?"
„Ich bin eine Animatorin", erkläre ich ihr.
„Okay, wenn das so ist, wirst du vermutlich nach Paaralan gehen müssen", sagt sie schließlich enttäuscht. „Ich werde dem Direktor natürlich sofort Bescheid geben lassen." Ihre Augen sind nun nicht mehr auf mich gerichtet, sondern aus dem Bodentiefem Fenster, von welchem man die ganze Stadt sehen kann.
Traurig lasse ich meinen Kopf hängen und erhebe mich zum Gehen. „Ich werde jemanden zu dir schicken, sobald ich alles geregelt habe", teilt mir die Prinzessin noch mit.
Stumm begleitet mich Morgan zurück zu meinem Zimmer. Zum Gluck lässt sie mich alleine in meinem Schlafzimmer zurück. Ich hätte im Moment keine Lust darüber zu reden. Sie kennt mich einfach schon zu gut. Und jetzt muss ich sie auch verlassen. Denke ich leise bevor mir die Tränen kommen.

Keine Ahnung wieviel Zeit vergangen ist, aber als ich schließlich das Klopfen höre, sind meine Tränen längst vertrocknet. Ich bleibe leblos auf meinem Bett liegen. Es klopft noch einmal auf meiner Tür, doch das Bedürfnis aufzustehen, ist immer noch nicht da. Trotz meines Schweigens öffnet sich unerlaubt die Holztür.

Ich drehe mein ausdrucksloses Gesicht zum Eingang. Ein junger Wache, den ich noch nie gesehen habe, steht vor der offenen Tür, wodurch kühle Luft hineinströmt. Auf meinen Armen breitet sich Gänsehaut aus. Nervös kratzt der junge Wache sich am Nacken. „Miss, Entschuldigung für die Störung, aber die Königin will euch sprechen." Was will die Königin denn jetzt von mir?
Jedes Mal, wenn wir uns sehen, stellt sie mir weitere Fragen, auf die ich keine Antwort weiß.

Nach einem kurzen Seufzen raffe ich mich doch dazu auf, mein komfortables Bett zu verlassen.
Wie ein Roboter folge ich dem Wachen durch die nun familiären Gänge bis wir vor den imposanten Doppeltüren des königlichen Gemaches ankommen. Die breit gebauten Wachen lassen mich auf Anhieb in die Eingangshalle. Hinter mir fallen die schweren Türen mit einem lauten Knall, welcher den stillen Raum durchdringt.
Ich trete ich ein leeres Empfangszimmer, also mache ich es mir auf dem blauen Sofa gemütlich. Kurz danach betritt auch die Königin das Zimmer. Ihre braunen Haare sind wie immer zu einer kunstvollen Frisur geformt. Auch an ihrem Kleid ist kein Makel zu finden, nicht einmal ein Staubkörnchen.

„Schön dich zu sehen, Kalia", begrüßt mich die Königin mit einem aufgesetzten Lächeln. Anmutig senkt sie sich auf das Sofa gegenüber von mir. Mit einem kalkulierenden Blick beobachtet sie mein Ausdrucksloses Gesicht. „Wie ich gehört habe, hat sich bei dir doch eine der Fähigkeiten geäußert. Nicht wahr?"
Angespannt nicke ich.
„Interessant, findest du nicht? Wer hätte gedacht, dass ein unscheinbares Mädchen wie du eine Animatorin ist."
„Eure Hoheit, ich will nicht respektlos sein, aber wieso bin ich hier?" Ich kann mir einfach nicht erklären, wieso die Königin mit mir persönlich darüber sprechen will. Ich bezweifle, dass sie mit allen Begabten sprechen will.
Sie lacht ein gespieltes Lachen und mustert mich abermals, als wäre ich das erste Mädchen, das sie je gesehen hatte.

„Ich will doch nur das Beste für dich, glaube mir", teilt sie mir mit. „Fühlst du dich denn wohl hier?", fragt sie wie aus dem Nichts.
„Schon."
„Wie würdest du dich fühlen, wenn wir dich hier ausbilden lassen?" Sie beobachtet mich gespannt. „Du musst wissen, dass meine geliebte Tochter, dich sehr ins Herz geschlossen hat. Sie hat mich gebeten, dich hier zu behalten." Dies überrascht mich etwas. Valaia hatte mir doch schon mitgeteilt, dass ich nach Paaralan gehen würde.
„Wie du siehst, ich kann ihr nicht widersprechen, somit werde ich dir erlauben hier zu bleiben."
„Ehm, w- wie Ihr wollt, Eure Hoheit", stottere ich.
„Nun gut. Du darfst jetzt gehen. Dein Training beginnt morgen Früh, nachdem du Valaias Morgenroutine erledigt hast."
Verblüfft verlasse ich das königliche Gemach.

Wer hätte gedacht, dass sich mein ganzes Leben innerhalb eines Tags abermals völlig auf den Kopf stellt.

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The Queen of SecretsWhere stories live. Discover now