5 - Wie ein Eichhörnchen im Scheinwerferlicht

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   Die nächsten Tage waren vollgestopft mit Vorlesungen, Erledigungen für den Haushalt und abendlichem Lernen für die bevorstehende Klausurphase. So verging die Zeit wie im Flug, bis ich meinen Polo abermals auf dem Parkplatz der JVA abstellte, die Ausweiskontrolle und die Leibesvisitation hinter mich brachte und zusammen mit Daniel in Richtung des Besucherzimmers ging.
   "Wird es jetzt Konsequenzen für Herrn Winterfeld geben?", fragte ich ihn, während er hinter uns eine Flurtüre schloss.
   "Nein", antwortete er, "ich habe den Verantwortlichen erklärt, dass er nur Opfer der Provokation war, auch, wenn er auf so etwas natürlich nicht anspringen sollte. Liam ist leider mit keinem sehr langen Geduldsfaden gesegnet. Daran wird er arbeiten müssen, wenn er wieder draußen ist. Sonst sehe ich ihn schneller wieder, als ihm lieb ist."
   "Du setzt dich ganz schön für ihn ein, oder?", wollte ich wissen. Ein sanftes Lächeln legte sich auf die Lippen des Beamten, der mich nicht ansah, sondern einfach weiter geradeaus blickte.
   "Wir sind gleichzeitig hier angekommen. Vor sieben Jahren hatte ich meinen ersten Tag und er wurde hierher gebracht. Wir kennen uns also schon sehr lange und verstehen uns auch ziemlich gut", erklärter er und ich stellte fest, dass er dann doch schon ein paar Jahre älter sein musste, als er aussah, "manchmal frage ich mich, wie er überhaupt zu so etwas fähig gewesen sein konnte. So ein intelligenter Mann. Klar, er hat seine Aggressionsprobleme, aber selbst die hatte er zunehmend in den Griff bekommen. Ich würde einfach sagen, dass er inzwischen mein Freund geworden ist."
   Ein dickes Grinsen stahl sich auf mein Gesicht und ich knuffte ihn in die Seite.
   "So süß!", quietschte ich und war erstaunt darüber, wie schrill meine Stimme sein konnte.
   "Lass mich!", murrte Daniel mit leicht geröteten Wangen und fuchtelte nach mir wie nach einer lästigen Fliege. Während ich noch dümmlich vor mich herlachte, erreichten wir den Besucherraum.
   Ebendieses Lachen blieb mir im Hals stecken, als sich der Blick eines stechend blauen Augenpaars durch mich bohrte.

   Liam saß bereits auf dem Stuhl vor dem Tisch, der zugeteilte Wächter stand positioniert an seinem Fleck und ich wie ein Eichhörnchen im Scheinwerferlicht in der Tür, nicht sicher, ob ich mich tot stellen, oder so tun sollte, als wäre nichts.
   Ich räusperte mich und entschied mich für Letzteres.
   "Guten Tag, Liam", grüßte ich ihn und meine Hand zuckte schon, weil ich sie ihm reichen wollte. Im letzten Moment jedoch besann ich mich eines Besseren und setzte mich einfach.
   "Was gibt es denn so Witziges?", fragte er mich forsch und zerstörte damit mein Vorhaben, meinen peinlichen Auftritt einfach zu übergehen. Aber da ich nicht auf den Kopf gefallen war, nutzte ich die Chance den schwarzen Peter an Daniel weiterzureichen.
   "Daniel hat mir nur gerade seine Liebe zu dir gestanden", höhnte ich mit einem schelmischen Grinsen. Hinter mir hörte ich, wie sich der Beschuldigte, mit der Hand vor den Kopf fasste und vor mir sah ich, wie Liam interessiert und belustigt die Augenbrauen hob.
   "Ich warte beim Eingang", sagte Daniel und tat das einzig Sinnvolle: Flüchten.
   "Ich liebe dich auch!", rief Liam ihm zu, kurz bevor sich die Türe hinter ihm schloss, und lachte dann. Es klang unheimlich rein. Irgendwie unschuldig. Ein wunderschönes Lachen, welches mir im ersten Moment die Sprache raubte. Als sich sein Blick von der Tür löste und zurück auf mich richtete, wurde er schlagartig wieder ernst. Was zur Hölle?
   "Du kannst mich nicht leiden, oder?", fragte ich und spürte, wie ob dieser Erkenntnis, ein Stechen durch meine Brust zog. Liams Mimik lockerte sich wieder.

   "Doch. Ich mag es bloß, wenn du verunsichert bist."
   "Psychooo", warf ich ihm vor und kreiste kurz meinen Zeigefinger neben meiner Schläfe. Liam lehnte sich auf seinem Stuhl zu mir vor, was mich dazu brachte, ein wenig zurückzuweichen. Wenn er so nah kam, fühlte ich mich durch seine starke Präsenz bedrängt.

   "Was glaubst du, warum ich hier bin?", raunte er leise und sah mich einige Momente intensiv an, in denen ich erstarrte." Aber keine Sorge, alle Tests sprechen dagegen." Mit einem Augenzwinkern lehnte er sich wieder zurück und ich schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender.
   "Du bist hier, weil du einen Mann zu Brei geschlagen hast!", brach der Schock von meinem Internetfund aus mir heraus und ich sah, wie Liam im ersten Moment schluckte. Dass ich so direkt war, hatte er sicherlich nicht erwartet.
   "Du hast es also gesehen?", wollte er wissen. Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage, dennoch nickte ich.

   "Was hast du dir dabei gedacht? Ich meine, noch brutaler und noch toter geht wohl nicht. Mit was hast du auf ihn eingeschlagen?", sprudelten die Worte aus mir hervor, wie frisches Wasser aus einer Quelle.
   "In so einer Situation denkt man nicht sehr viel", Liam legte seine Hände auf den Tisch und schob sie zu mir nach vorne. Moment mal, Hände?!

   "Wieso bist du nicht ..."
   "... gefesselt? Weil es dieses Mal keinen Aufstand auf dem Flur gab und es keinen Grund dazu gibt. Du bist mein Besuch, da werde ich doch nicht in Handschellen hergebracht."
   "Oh ... ", sagte ich ein wenig enttäuscht darüber, dass ich ihm zur Begrüßung diesmal sehr wohl die Hand hätte geben können. Mein Blick richtete sich wieder herab auf eben diese. Was wollte er mir damit sagen?
   "Sieh hin", wies er mich an, als er das Fragezeichen in meinem Gesicht sah, "siehst du die Narben?"

In der Tat befanden sich feine, weiße Linien auf seinen Knöcheln. Ich betrachtete eingehend seine Hände, und als ich feststellte, wie groß und kräftig sie waren, wurde mir schlagartig klar, was er mir zu sagen versuchte.
   "Du hast ihn ... mit deinen Händen ...", stotterte ich. Die Bilder der Website fanden ihren Weg zurück vor mein inneres Auge und mein Magen begann Purzelbäume in meinem Bauch zu schlagen. All das Blut, diese gnadenlose, unmenschliche Zerstörungswut, die sich wie eine Explosion in dem Gesicht des Opfers ausgebreitet hatte. Dazu waren diese Hände in der Lage gewesen? Die Haare an meinen Armen und in meinem Nacken hatten sich bereits aufgestellt und mein Puls raste, als würde ich rennen. Meine Handinnenflächen wurden schwitzig und ich umklammerte meinen Kugelschreiber fester, mit dem ich eigentlich Notizen machen wollte.
   Warum? Warum hatte er so etwas Schreckliches getan?

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Helena will zeigen, dass in Verbrechern wie Liam trotzdem ein Mensch steckt, doch damit klar zu kommen, dass jemand ein anderes Leben genommen hat, scheint nicht so einfach zu sein. Glaubt ihr in Liam steckt etwas Gutes und der hat sich geändert im Laufe seines Aufenthaltes?
Im nächsten Kapitel geht das Gespräch der beiden weiter!

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>>Nächstes Kapitel: Nicht der Richtige

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