Kuss? Oder wieder beinahe?

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"Avelin! Konzentration! Ich brauche jetzt diesen Rollstuhl!" flucht Lucille während sie die übergewichtige alte Dame stützt. Erschrocken fahre ich zusammen und hebe meinen Blick vom Boden, lasse ihn zu Lucilles vor Wut rotem Gesicht fahren. In ihre Augen will ich jetzt lieber nicht sehen. "Wird's bald?!" knurrt sie wieder und ich packe den Rollstuhl, bevor ich ihn zu ihr fahre. Mit Mühe setzen wir die Dame ab und Lucille sieht mich zornig an "Wir reden gleich." murrt sie und fährt die keuchende Frau in das Krankenzimmer.

Ich eile in den Raum, hinter unserer Theke und verstecke mich bei der ganzen Medizin. Hoffnung habe ich, dass ich dem Gespräch entkommen kann. Ich habe einfach gar keine Lust, ihr erklären zu müssen, weshalb ich heute so unkonzentriert und lustlos bin. Es geht mir einfach auf die Nerven ständig darüber nachdenken zu müssen. Können sie mich nicht nach was anderem Fragen, statt nach meinem oder Adams Wohlbefinden? Denn die Antwort auf die Frage ist mir selber fremd. Ständig werde ich an ihn erinnert und somit auch daran, dass wir seit Wochen nicht mehr so sind wie es einmal war. Er sieht mich nur als beste Freundin an. Wieder durchfährt mich dieser Schmerz. Mit dem Unterschied, dass er nicht mehr schmerzt, so selbstverständlich ist er. Diese Lage ist so zwecklos, dass ich mich selbst an einen Schmerz gewöhne.

"Avelin Alié Jenkins!"
Ein Schauer läuft mir über den Rücken, als ich die wütende Stimme von Lucille höre. Jesus, diese Frau kann der Teufel höchstpersönlich werden, sobald sie irgendwas so sehr aus der Fassung bringt. Tja, ich habe es mal wieder geschafft. Das ist dann mein drittes oder doch siebtes Mal? Und doch habe ich so viel Angst, wie auch beim ersten Mal.
"Du weißt, dass das kein kreativer Versteck ist?" vor mir stellen sich zwei weiße Schuhe, eher gesagt ihre Schuhe und ich spicke vorsichtig zu ihr hoch.
"Vor dir ist kein Versteck sicher...." murmle ich zu mir selbst und versuche mich aufzurappeln. "Was?" fragt sie mich verwirrt, doch schüttelt dann ihren Kopf "Ist mir egal, wäre es wichtig hättest du es nicht genuschelt. Was ist denn mit dir los?". Gleichgültig hebe ich meine Schultern an und lasse sie wieder fallen. Selbst die Kraft zu einem Schulterzucken fehlt mir. "Hey, kleines. Was ist passiert?" sie legt vorsichtig ihre Finger unter mein Kinn und hebt leicht meinen Kopf. Bei so viel Liebe und Wärme, welche in ihren Augen abzulesen sind, fangen meine Drüsen an, ihren Aufgaben nach zu gehen. Warum kann das nicht Adam sein?

'Es ist auch bei Adam zu sehen, nur ist es nun mal so wie bei ihr. Freundschaftlich.'

Einmal im Leben, gebe ich meiner Raupe recht. Mein kleiner Wunsch, welchen ich gerade hatte, ist seit langer Zeit, seit wir aus dem Krankenhaus marschiert sind, in Erfüllung gegangen. Ich hatte mir was falsches gewünscht. Der Druck welcher sich hinter meinen Augen ausbreitet, fängt an zu schmerzen. Ich presse sie zusammen und lasse meinen Kopf wieder sinken. Verbissen, lasse ich meine Hand immer wieder über meine Augen fahren und höre wie ein Schluchzer nach dem anderen aus meinem Mund ertönt. Ich fühle mich so als würde ich mir meine Seele auskratzen. Nein, als würde sie mir jemand rauskratzen. Lange Arme legen sich um meinen Oberkörper, streichen mir über den Rücken. "Du bist nicht alleine." flüstert die engelsgleiche Stimme von Lucille. "Ich fühle mich aber so."  hauche ich und verkrampfe mich. Ganz allein. Als wäre ich selbst die Einsamkeit. "Ich will doch bloß wissen, dass er mich liebt." kleine Töne verlassen meinen Mund, als wäre ich am Ende meines Lebens. Irgendwie fühlt es sich auch so an. "Ach Alié, es braucht Zeit." und da ist er wieder. Dieser Satz wurde mir so oft gesagt, dass ich angefangen habe es mir selber einzureden. Warum rücke ich nicht einfach mit der Wahrheit raus? Warum mache ich es uns so schwer, wenn es doch so einfach sein könnte. Plötzlich verspüre ich Wut. Wut auf mich, auf Adam, auf die ganze verdammte weite Welt, und Lucille. Auf mich, weil ich so naiv und dumm war. Auf Adam, weil er sich einfach nicht erinnert. Auf die Welt, weil mir niemand weiterhelfen kann. Und auf Lucille, weil sie es versucht mir gut zu reden, mit dem Wissen, dass es nicht so ist. Weshalb redet man nicht von der Wahrheit? "Nein! Hör auf! Ich habe der Wahrheit schon ins Gesicht gesehen." ich schlage ihre Hände weg und wische mir nochmals über die Augen. Sie haben sich in kürze zu einem Wasserfall gewandelt. Es ist verdammt schwer, sich vorstellen zu müssen, dass der Mensch, den man liebt, auf einmal vollkommen aus deinem Leben verschwindet und nur noch Scherben hinterlässt. Und ich bin dieser Mensch, welcher versucht, diese wieder aufzuheben und zusammen zu kleben. Doch Kleber hilft bei einem gebrochenem Herz nicht. Nein, er hilft einer gebrochenen Seele nicht. "Vielleicht solltest du der Wahrheit direkt in die Augen sehen." spricht sie einfühlsam auf mich ein. "Es ist schwer genug diesem Miststück ins Gesicht sehen zu müssen." erwidere ich. Noch nie übernahm mich die Müdigkeit so wie in diesen letzten Wochen. Noch nie, bin ich so schlecht eingeschlafen, wenn ich überhaupt mal geschlafen habe. Wann wird diese Plage endlich aufhören? Wann werde ich wieder ganz sein?
"Du bist aber nicht dieser Art von Mensch. Zeig diesem Miststück, dass du gut mit dieser Wahrheit arbeiten kannst."
Bei ihren Worten fange ich an zu grübeln. Meint sie, ich sollte ihm einfach alles erzählen? Von wirklich allem?
"Meinst du wirklich, es ist eine gute Idee?" bringe ich unter Tränen raus. "Nein, es ist die Beste von all den Schlechten."
Zustimmend nicke ich. "Und wie soll ich es ihm sagen? Es einfach raushauen, wenn ich ihm wieder begegne? Oh Gott Lucille ich bin am Boden." ich lasse mich den Medizinschrank hinunter gleiten. Warum muss ich auch immer die Arschkarten ziehen?!
"Ich denke, du merkst, wenn es gerade passt. Dann läuft es wie am Schnürchen." lächelnd kniet sie vor mich runter. "Und was ist, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben möchte? Was passiert, wenn ihm das alles zu viel wird? Werde ich dann zu meinen Eltern ziehen müssen und mit Janka zusammenkommen-" ihre Hand legt sich auf meinen Mund. "Konzentriere dich auf das Positive! Lass die Negativen Sachen bei mir. Leg sie mir auf den Schultern ab." auffordernd tippt sie auf ihre beiden Schultern. Das werde ich doch wohl jetzt nicht wirklich tun müssen? Oder?
"Na los, noch gibt es Platz." fordert sie mich auf und tippt nochmals auf ihre Seiten. Immer noch ungläubig starre ich sie an, doch hebe langsam meine Arme an und führe sie zu ihrer Schulter. "Super, jetzt wiege ich gleich 10 Kilo mehr." verdreht sie gespielt genervt ihre Augen, bevor sie mich wieder aufmuntert anlächelt. "Ich glaube, ich sollte mich mal fertig machen. Aldwyn kommt gleich, um die Visite durchzuführen." ihre Augen verdrehen sich nochmals, und langsam frage ich mich, ob das überhaupt gesund ist. Nochmals fällt sie mir um den Hals und streicht einmal über meinen Rücken, bevor sie aufspringt und zur Theke eilt, als die kleine Klingel ertönt. Auch ich stehe auf, doch laufe in die kleine Küche, um mir einen schwarzen Tee zu machen. Gerade als ich das heiße Wasser in die Tasse gieße, poltert Lucille in den Raum und stolpert über den kleinen Mülleimer, neben der Türe. Ich zucke zusammen, als ich das heiße Wasser auf meiner Hand spüre und der Schmerz sich komplett auf diese konzentriert. "HEIß, HEIß, HEIß!" kreische ich und fange an wie wild mit meiner Hand rumzufuchteln. Verdammt! "Oh Gott, Avelin. Das tut mir voll leid! Dieser blöde Mülleimer hat mich noch nie gemocht!" kreischt auch Lucille und springt von dem einem Bein, auf den anderen. Schnell halte ich meine Hand unter kühles Wasser und atme erleichtert auf.

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