Reißnagel

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Du, du stehst vor dem Spiegel.
Du, du denkst darüber nach, wie hässlich du doch bist.
Kleiner als der Durchschnitt,
Du ragst gerade mal aus dem Boden heraus,
Denn Lügner haben nun mal kurze Beine.

Du siehst ihn, er steht mit Distanz vor dir.
Du siehst ihn, wie er die Stirn runzelt und sich kritisch ansieht.
"Schönes Gesicht.", denkst du über ihn,
Was wird wohl dahinter liegen?

Du, du schaust dich an und fragst dich,
Wie es so weit kommen kann.
Zentimeterdicke Augenringe unter deinen grauen, müden Augen.

Du siehst ihn, er schaut sich an.
Du siehst ihn, ihn und seine zentimeterdicken Augenringe unter seinen grauen, müden Augen.

Du, du bist vertieft in deine Gedanken,
Was du alles machen wirst - irgendwann.
Und dann kommt dieser Satz von dem reißnagelgroßen Punkt in deinem Kopf:
"Vergiss es."

Du siehst ihn, vertieft in seine Gedanken.
Du siehst ihn, ihn mit dem schönen Gesicht, was so traurig dreinblickt.
Das schöne Gesicht, mit einem reißnagelgroßen Muttermal gespickt.

Du, du wendest dich vom Spiegel ab.
Du, du nimmst dir deinen Block und gehst.
Der Block, der schon tausend Worte auf sich stehen hat,
All die, die du nie aussprechen wirst.

Du siehst ihn, er wendet sich ab.
Du siehst ihn, wie er sich einen Block nimmt.
Abgegriffen und abgerissen,
Beschrieben und unordentlich.

Du, du sagst dir, dass du hoffst, dass du das richtige glaubst, indem du denkst und meinst, was du glaubst zu denken.
Doch du, du glaubst an nichts,
Du, du hoffst zu wenig,
Du, du denkst zu einfach und du, du meinst wohl nie genug.

Du siehst ihn, ihn mit seinen zitternden Fingern.
Du siehst ihn, ihm die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.
Im Zwiespalt gegangen, aus dem Glauben geflohen und der Hoffnung entronnen.

Sein Leben besteht aus Warten.
Er trinkt Tee statt Kaffee,
Wegen den Menschenrechten.
Macht es heimlich, macht es still,
In der Öffentlichkeit wär es viel zu viel.

Er schreibt Texte,
Texte, die niemand hören wird,
Denn sie sind nicht zum gewinnen gedacht,
Denn sie sind nicht zum umstimmen bestimmt.
Es sind doch nur Texte.

Er wird häufig in der Schule gesehen,
Immer alleine stehend
In sich gekehrt, manche sagen introvertiert,
Immer so einen Block dabei.

Was wird ihm schon zugetraut?
Nichts, das ist es.
Denn er steht allein und macht nichts aus sich;
Wieso sollte ich ihm mein Vertrauen schenken oder über ihn nachdenken?

Du, du willst es.
Du, du gehst da jetzt hoch und stellst dich da hin.
Du, du denkst über die Gründe nach, die dich abhalten können - es aber doch nicht tun.

Du siehst ihn, ihn während der die Stufen hoch steigt.
Du siehst ihn, ihn und seinen Block,
Ihn mit dem schönen Gesicht und dem grübelnden Blick.

Du, du findest keinen Grund mehr,
Es zu lassen.
Du, du traust dich, dich zusammenzuraffen und ziehst es jetzt durch.

Du siehst ihn, ihn wie er seinen Weg bestreitet.
Seinen Weg nach ganz oben.
Doch du siehst auch seine Augenringe,
Die wie Schatten unter seinen Augen liegen.

Du, du schaltest die Stimme in deinem Kopf aus.
Dieses monotone Etwas, das dir sagen will,
Dass du nicht gut genug bist und dass es nicht gut ist,
Dinge nicht so hinzunehmen wie sie sind.

Du siehst ihn, ihn und seinen Schatten der ihn verfolgt.
Du siehst seinen Schatten, seinen Schatten, der mit der Zeit die Macht verliert.
Am Anfang war er zu groß, viel zu groß um überwunden zu werden.
Viel zu groß aus Angst der Meinung anderer.
Doch mittlerweile ist er reißnagelgroß. Klein, und nur noch ein Punkt.
Ohne Bedeutung.

Du, du bist taub.
Du, du hast das Gefühl gefühllos gemacht und die Bedeutung unbedeutend gemacht.
Du, du hast dich getraut,
Zu zeigen was du schreibst und zu zeigen, was du liebst. 

24. November 2016

ReißnagelWhere stories live. Discover now