06 Das Schauer-Märchen vom bösen Genie hinter dem apokalyptischen Computervirus

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Wie Computerviren zur schicksalhaften Bedrohung aus dem Cyberspace wurden. Warum die jugendlichen Kleinkriminellen, die sie schreiben, als böse Genies gelten. Wie eine halbseidene und milliardenschwere Softwareindustrie von der Dämonisierung des groben Unfugs profitiert und die Virenpanik aus wirtschaftlichem Kalkül schürt. Und wie die Mär vom genialen Killervirus zu Abstumpfung, Vertuschung und Fehlinvestitionen führt..

Virenalarm. Wieder einmal. Eine Lawine infizierter E-Mails wälzte sich am 12. Februar 2001 durchs Internet. Mehrere Millionen Computer wurden angesteckt. Und alles nur wegen Anna Kurnikowa. Das Computervirus gleichen Namens verführte die Nutzer mit einem angeblichen Digitalbild der russischen Tennisspielerin. An die zerstörerische Botschaft war eine Datei mit dem vielversprechenden Namen "AnnaKournikova.jpg.vbs" angehängt. Ein Pin-up-Foto? Ein peinlicher Schnappschuss unterhalb der Gürtellinie? Viele Empfänger konnten der E-Mail-Versuchung nicht widerstehen. Mit einem Doppelklick versuchten sie, die Bilddatei zu öffnen. Doch kein Kurnikowa-Foto, nirgends. Stattdessen erwachte unbemerkt eine zerstörerische Kraft zum Leben. "Wurm" nennen Spezialisten den bösartigen Code. Denn anders als gewöhnliche Computerviren reiste er nicht als blinder Passagier mit einer anderen Datei, sondern wand sich selbständig durch die Netze. Der Kurnikowa-Wurm durchstöberte die Festplatte des Nutzers und verschickte Kopien von sich selbst an Empfänger im Adressbuch des E-Mail-Programms Outlook von Microsoft.

Internet-Epidemien breiten sich meist mit der Morgensonne aus und reisen um den Erdball wie eine rabenschwarze Aurora. Als in den USA die Büroangestellten ihre Rechner starteten, fanden viele von ihnen den Kurnikowa-Wurm in ihrem Mailkonto – und traten dann eine Lawine sinnloser Massenmails los, die weltweit die Firmennetze überfluteten und einige E-Mail-Server lahm legten. Der Schaden betrug nach Schätzungen des FBI allein bei 55 gemeldeten Opfern über 160 000 Dollar. Einen genauen Beleg lieferten die Ermittler dafür nicht. Sie verließen sich auf die vagen und möglicherweise übertriebenen Angaben der Geschädigten. Vieles beruht beim Thema Computerschädlinge auf Hörensagen. Bewiesen, argumentiert und recherchiert wird kaum mehr wie im Genre der Wandersage oder des Seemannsgarns. Der Topos des Datenterrors ist einer der mythischen Orte der Informationsgesellschaft, ein wahres Horrormärchenland.

Das Märchen vom finalen Killervirus

Es wird einmal, vielleicht schon morgen früh am Bürorechner, zur großen Entscheidungs-Schlacht kommen zwischen den Mächten der Finsternis und den Kräften des Lichts. So will es das Märchen vom finalen Killervirus. Die Rolle des Bösen übernehmen in diesem Moralstück die Virenprogrammierer, namenlose Heerscharen von hochbegabten "Darkside-Hackern", die in schwarzen Messen der Programmierkunst digitale Monstren erschaffen. Ihre Pseudonyme erinnern an die Bösewichter in Fantasy-Comics: "Dark Avenger", "Dark Angel", "Rigor Mortis" oder "Nowhere Man". Ihre Symbole sind düster und stammen aus der Welt der andernorts längst ausgestorbenen Deathmetal-Szene: Totenköpfe, tropfende Blutzspritzen, Giftzeichen. Ihre unheilbringenden Armeen sind tot und lebendig zugleich: Ketten aus Nullen und Einsen, die wie Zombies zum Leben erwachen, wenn sie das Signal zum Angriff erhalten. Oder wie Frankensteins Monster, hinter dem, so will es schon die Romanvorlage von 1818, eben ein hochbegabtes, aber moralisch unterentwickeltes Genie steht. Virenprogramme vermehren sich wie elektronische Lebewesen, das macht ihre Magie aus. Virenprogramme brechen in den geregelten Büroalltag ein wie ein böser Spuk. Sie ziehen dem aufgeklärten Alltagsbewusstsein den Teppich unter den Füßen weg und toben durch die kollektive Fantasie wie Poltergeister – die Rache des Unterbewussten an den Weltbeherrschungsfantasien, die sich um die Effizienzmaschine Computer ranken. Ein falscher Klick genügt, schon ist die Arbeit von Monaten vernichtet und der teure Hightechrechner ist nur noch ein Haufen Sondermüll.

Dies Schauermärchen gehört zum Genre der Weltuntergangsfantasie. Denn wer der Welt der Technik ein Eigenleben und eine Eigenwilligkeit zugesteht, wie es all die Technikdeterministen zu tun pflegen, für den bedeutet das Vernichten von Daten nichts geringeres als die Auslöschung des Weltgedächtnisses, jener ultimativen Transzendenzfantasie. Mal angenommen, ein Amazonas-Indianer würde als Ethnologe die Informationsgesellschaft erforschen. Er würde im Mythenkranz vom Killervirus, der bei den Stämmen der Dotcom und der Digerati kursiert, unweigerlich das Wilde Denken seiner Heimat wiedererkennen.

Hightechmärchen - Die schönsten Mythen aus dem Morgen-Land (Reloaded)Where stories live. Discover now