Fünf Jahre später

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Meine Freundin Leona flattert fast nie so nervös herum, aber als sie zum ersten Mal die grosse Pforte von Galena passierte, zitterten ihre Flügel wie ein sich kräuselnder Spiegel.
Direkt hinter ihr folgte Andalonus, der unentwegt auf und ab sprang, während ihm sein blaues Haar um den Kopf wogte.
Meteor flog zufällig neben mir, an der Pforte blieb er jedoch stehen.
,, Nach dir Zaria", sagte er mit Augen, die wie perfekt geschliffene Smaragde leuchteten.
Als ich an den magischen Säulen vorbeiglitt, die Galena beschützten, konnte ich das aufregende Beben meiner Flügel nicht ausdrücken. Meine Freude war einfach viel zu gross.
Wir hatten warten müssen, bis alle in unsere Klasse das 16 Lebensjahr erreicht hatten, bevor auch nur einer von uns nach Oberons-Stadt gehen durfte. Ein schreckliches und dummes Gesetz, das man jedoch wie alle Gesetze in Elfenland mit grosser Strenge durchsetzte. Deshalb waren wir in Galena festgesessen, wo nur Neugeborene, Kleinkinder und Jugendliche mit ihren Eltern lebten, bis ich, Zaria Turmalin, die Jüngste in unserer 50 -köpfigen Klasse, endlich 16 wurde.
Es tat mir leid, dass neunundvierzig andere Elfen meinen Geburtstag hatten abwarten müssen. Wenn ich ihn hätte herbeizaubern können, hätte ich ihn gemeinsam mit Andalonus gefeiert, als er fünf Wochen vor mir 16 wurde.
Sobald wir die Pforte passiert hatten und Oberons-Stadt betraten, befahl uns Kommissar Blutstein, zu Fuss zu gehen.
Gehen!
Als würden wir Unfälle verursachen, wenn wir flogen. Es war völliger Unsinn, weil wir alle schon seit unserem vierten Lebensjahr fliegen konnten. Unter unseren Füssen spürten wir harte Granitplatten statt weichen Sands, der aus Sicherheitsgründen in ganz Galena verstreut war. Wir mussten die Hälse recken, um die Gebäude zu sehen. Und was für Gebäude! In Galena waren alle Bauwerke niedrig, damit sich junge Elfen nicht verletzten. Aber in Oberons-Stadt ragten um uns herum riesige Kuppeln auf, die in Silber, Gold, Platin und Kupferrot schimmerten. Und jenseits der Kuppeln, erblickte ich gewaltige, mit Edelsteinen übersäte Türme.
Portia Perdiot kreischte vor Aufregung und sprang fünf Flügelspannweiten in die Höhe, bis Mr Blutstein sie anbrüllte:,, Bleib auf dem Boden, Portia, oder ich binde deine Flügel zusammen!"
Portia kam so schnell herunter, dass ihre Landung auf dem harten Fussweg bestimmt schmerzhaft war. Mit herunterhängenden Flügeln humpelte sie weiter. Ich starrte wütend Löcher in Blutsteins Rücken. Typisch für ihn, uns wie Kleinkinder zu behandeln, und das selbst in Oberons-Stadt!
Blutstein betrat durch einen Marmorbogen eine Ausichtsstation, in der es vor erwachsenen Elfen nur so wimmelte. Er beachtete diese nicht weiter und führte uns in einen abgetrennten Raum. Wie Kleinkinder, die zum ersten Mal farbigen Rauch erblickten, rissen wir verwundert die Augen auf. Kabinen aus Kristall, so durchsichtig wie ungetrübte Regentropfen, ragten sich ein Skop, ein magisches Instrument aus Silber, mit dem man von unserer Welt auf die Erde sehen konnte.
Wir waren hier, um zum ersten Mal in unserem Leben einen Blick auf das sagenumwobene Land der Menschen zu erhaschen.
Auch würden wir zum ersten Mal miterleben, wie eine Elfenpatin oder ein Pate einem neugeborenen Menschenskind eine Gabe verlieh.
Meteor war weit vor mir. Ich sah, wie er eine Kabine betrat und unter Blutsteins wohlwollendem Blick ein Auge an das Skop hielt. (Meteor war vermutlich der einzige Schüler, den Blutstein je unterrichtet hatte, weshalb unser werter Lehrer ihn für den grössten lebenden Elfen hielt.)
Als Blutstein mich nach vorne winkte, hatte ich nicht die geringste Vorahnung, dass sich mein Leben in diesem Augenblick für immer verändern würde. Ich drückte die Stirn leicht gegen die Halterung über dem Okular des Skops. Einen Moment lang machte ich nichts weiter als Bäume und Himmel aus. Bei diesem Anblick verspürte ich das seltsame Verlangen, aus der Kabine zu springen und ein Portal zur Erde zu finden. Ich wollte durch diesen Himmel schweben und mit den Fingerspitzen über die Blätter der Bäume streichen.
,,Halte nach dem Baby Ausschau, das du hier beobachten sollst, Zaria", flüsterte mir Blutstein ins Ohr. Warum hatte er nicht vor der Kabine warten können?
Ich betätigte einen der Schalter, woraufhin mehrere Linien aufleuchteten und auf ein in eine flauschige gelbe Decke gewickeltes Menschenbaby zeigten. Es war ein Mädchen. Es hatte braune Haut, die ein wenig heller war als die von Meteor, und dünnes, strähniges Haar, das s o unansehnlich wie das eines Zwergs war. Offenbar verfügten die Menschen über keine grosse Vielfalt an Haut- und Haarfarben. Ich blickte in die strahlenden Augen des Babys und sah zu, wie es mit seinen Füsschen um sich trat und seine winzigen Finger ineinander schlang.
Eine Glocke läutete das Ereignis ein, für das man mich hierher gebracht hatte: die Verleihung des Geburtsgeschenk an das kleine Menschenskind -meine erste Gelegenheit, zu beobachten, wie eine Elfe ihre Aufgabe als Patin erfüllte.
Ich beobachtete, wie die Gabe wie Nebelschwaden auf die Erde waberte und in die Haut des Babys einsank. Und obwohl ich nicht danach fragte, sagte mir meine Magie, um was für eine Gabe es sich handelte - nämlich wenig Neugierde zu besitzen.
Die Augen des Babys trübten sich. Ich fand das nicht. Warum verlieh eine Patin einem Kind so eine Gabe? Es erschien mir ganz und gar nicht wie eine Geschenk , sondern eher wie ein Fluch, der dem Kind eine wertvolle Eigenschaft nahm.
Ich warf einen Blick in die Nachbarkabine, in der die Patin des Babys sass. Sie wandte ihr aalglattes Gesicht von ihrem Patenkind ab, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzuschauen. Bevor sie die Kabine verlies, sah ich deutlich ihr safrangelbes Haar, in das Morganit-Fäden geflochten waren. Ihre dünne Nase bog sich an ihrem Ende nach unten, und ihre Flügel waren weiss.
Ich knallte mit dem Ellenbogen gegen den Arm des Skops und verlor das Baby aus den Augen. Ich versuchte, das kleine Mädchen wiederzufinden. Das Skop schwang hin und her, und ehe ich mich's versah, erblickte ich einen Menschenjungen, der ungefähr so alt war wie ich. Seine Erscheinung war so farbenfroh und unverwechselbar, dass er ein Elf hätte sein können:
Er hatte rotgoldenes Haar, das wie ein Feuer loderte, und haselnussbraune Augen, die wie Bernstein schimmerten. Irgendwie fing ihn das Skop in einem Moment ein, in dem es mir so vorkam, als erwiderte er meinen Blick.
Ich sprang auf und schlug den Arm des Skops dabei in die Senkrechte.
Blutsteins fahles Gesicht verzog sich zu einem allzu vertrauten spöttischen Grinsen. ,,Du wirst dich daran gewöhnen", sagte er.
Das war eine der grössten Lügen, die man mir je erzählt hatte.

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