Kapitel 3 - Kara

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"Ian?" Das war das erste, das ich heraus brachte, nachdem ich ihn erstmal eine gefühlte Ewigkeit nur angestarrt hatte.
Auch er betrachtete mich mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht genau deuten konnte.
Langsam bewegte ich mich auf ihn zu, konnte mich aber nicht dazu bringen, meinen Blick von seinem Gesicht abzuwenden.

Er war wesentlich größer als das letzte mal, dass ich ihn gesehen hatte und auch ziemlich muskulös. Seine dunkelbraunen Haaren, die damals noch recht lang gewesen sind, waren jetzt kurz geschnitten, was ihn aber irgendwie männlicher aussehen ließ. Auch seine Haut war dunkler geworden, allgemein hatte er sich in den letzten Jahren stark verändert, er war erwachsen geworden.
Aber eine Sache, die sich an ihm nicht verändert hatte, konnte ich selbst aus einigen Metern Entfernung erkennen: seine Augen strahlten immer noch in diesem intensiven Grün, wie sie es schon immer getan hatten.

Als ich vor ihm zum Stehen gekommen war, starrte ich ihn immer noch an. Auch er musterte mich immer noch, sah mich jedoch eher abwartend an.

"Ja? Was ist?", fragte er in einem Tonfall, der mich zutiefst verunsicherte. Es klang so, als wäre ich für ihn eine fremde Person, die er noch nie gesehen hatte und auf eine gewisse Weise auch ziemlich kalt.
So überhaupt nicht wie der junge Ian, der kleine Junge mit den großen grünen Augen, den widerspenstigen längeren dunklen Haaren und den kleinen Grübchen, die immer zum Vorschein gekommen waren, wenn er gelächelt hatte, der Junge, der mit mir und meinem älteren Bruder im Garten gespielt hatte und mit uns seine Gummibärchen geteilt hatte.

"Ähm...", brachte ich endlich hervor, musste mich jedoch erstmal räuspern, bevor ich ein vernünftiges Wort heraus brachte.
"Meine Mutter hat mich gebeten diese Schüssel zurück zu bringen.", erklärte ich ihm und deutete dabei auf unser Haus auf dem Nachbargrundstück.

Nachdenklich zog der junge Mann vor mir die Augenbrauen zusammen.
"Kara Baker." Seine Stimme war nur ein Flüstern und ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das hätte hören sollen.
Wobei ich mir aber sicher war, war dass er mich nervös machte. Zudem verwirrte sein Verhalten mich völlig. Wie er meinen Namen gesagt hatte, so als sei er sich nicht ganz sicher, ob er mich wirklich vor sich hatte, als könnte er sich nicht mehr wirklich an mich erinnern, was mich zugegebener Maßen etwas kränkte, wenn man bedachte wie viel Zeit wir als Kinder und auch noch als Jugendliche zusammen verbracht hatten, bis er weg ging.
Dennoch versuchte ich mir meine Unsicherheit, die normalerweise nicht zu meinen vorherrschenden Charaktereigenschaften zählte zu verbergen.
"Ja?", reagierte ich auf die Erwähnung meines Namens und blickte ihn abwartend an.

"Du hast dich ziemlich verändert, seit ich dich das letzte mal gesehen habe.", meinte er, jedoch klang er dabei ziemlich gleichgültig und vermittelte auch seine Haltung dies, wie er da so in den Türrahmen gelehnt stand und auf mich herunter sah. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn auch wenn er als Kind nie einer der größten war, überragte er mich, die ich ja auch nicht zu den kleinsten zählte, um knapp einen Kopf.

"Du auch.", war meine schlichte Antwort und um endlich dieser Situation, die mir so überhaupt nicht behagte zu entkommen, hielt ich ihm einfach die Schüssel hin. "Gibst du die bitte deiner Mutter und sagst ihr liebe Grüße von mir?", bat ich ihn, ohne weiter darauf einzugehen, dass er Jahre lang weg war und wir meiner Meinung mehr als flüchtige Bekannte waren, für die so ein Verhalten möglicherweise angemessen gewesen wäre. Ich hatte mich oft gefragt, ob ich ihn jemals wieder sehen würde, meinen Spielkameraden aus der Kindheit und so, wie beschreibe ich es am besten? Unterkühlt hatte ich es mir nicht vorgestellt.

Langsam verließ er seine Position im Türrahmen und kam mir einen Schritt entgegen, um mir dir Schüssel abzunehmen. Gerade als ich sie los lassen wollte, berührten sich unsere Finger und mich durchfuhr so ein merkwürdiges Kribbeln, das mich dazu brachte, meine Hand ruckartig weg zu ziehen und die Flucht zu ergreifen.

"Also, ich muss dann los. Wir sehen uns ja bestimmt irgendwann wieder.", sagte ich hektisch, während ich schon meinen Rückweg angetreten hatte, jedoch bekam ich keine Antwort, konnte aber dennoch seinen Blick in meinem Rücken spüren, was mich irgendwie nervös machte. Bevor ich das Gartentürchen erreichte, fiel mir noch etwas ein.

Ich blieb stehen und drehte mich noch einmal in seine Richtung um.
"Ach ja, willkommen zurück in San Francisco!" Mit diesen Worten drehte ich mich um und lief, zugegeben etwas überfordert mit dem gerade Geschehenen zurück zu unserem Haus.

Auch wenn es schon einige Stunden her war, dass ich dem lang verschollenen Nachbarsjungen begegnet war, war ich immer noch recht aufgewühlt, was mich vom Lernen abhielt. Und da meine beste Freundin im Moment auch keine Zeit hatte, um meine leicht aufgewühlten Gefühle wieder zu ordnen, tat ich das drittbeste, nach schwimmen und mit Freundinnen darüber reden, was ich tun konnte, um mich zu beruhigem: Mit unseren Hunden Suri und Samy im Park spazieren zu gehen.

So verließ ich wenige Minuten später mit den beiden Hunden unser Grundstück, mit Kurs auf den Park. Die zwei freuten sich, wie immer wenn wir spazieren gingen und ihre gute Laune färbte sofort auf mich ab, das gute Wetter mir dem wolkenlosen Himmel und die Sonne, die angenehme Wärme spendete, taten ihren Rest dazu, dass ich, sobald wir den Park erreicht hatten, ein breites Lächeln auf den Lippen hatte.
Meine verwirrten Gefühle, also sowohl die Aufregung, Ian nach all den Jahren wieder zu sehen, die Überraschung, dass er inzwischen so gut aussah als auch das Gefühl der Unzufriedenheit, weil er mich, meiner Meinung nach nicht unserer früherer recht engen Verbindung als Sandkastenfreunde entsprechend verhalten hatte, waren jetzt erst einmal unwichtig und ich konzentrierte mich voll und ganz auf die frische Luft, die grüne Wiese, den Wind, der durch meine Haare fuhr, die Sonne auf meinem Gesicht, die Ruhe die hier herrschte und auf Suri und Samy, die herumtollten und ihren Spaß hatten.
In diesem Moment vergaß ich alles was mich belastete, meine Sorgen, weil ich eigentlich hätte lernen sollen, die Angst, dass ich das Schwimmen auf Grund einer Schulterverletzung aufgeben müsste und meine verwirrten Gefühle wegen Ian.
Ich fühlte mich einfach nur frei.

So fern und doch so nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt