●S T A T I O N 5: T O D●

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S T A T I O N 5: T O D

Selten in meinem Leben hatte ich Angst. Selten stand ich unter Schock oder habe mich in einer Verfassung befunden, die auch nur annähernd mit dem Wort "Panik" beschrieben hätte werden können. Ich weiß noch, wie ich vor ein paar Jahren, bevor der Krieg ausgebrochen ist, Mutter und ich auf dem großen Markt gegangen sind, der einmal wöchentlich bei uns in der Nähe geöffnet hatte. Ich hatte Mutter angebettelt mit mir dorthin zu gehen, weil es dort jedesmal Zuckerwatte gab. Ich war so ungeduldig und quengelig, als wir dort ankamen, dass ich meine Mutter mit dem Metzger habe stehen lassen und eigenhändig nach dem Stand suchen wollte. Der Markt war groß, schmutzig, überfüllt, laut und eng. Wie dieser Zugwaggon. Doch ich hatte heftige Panik, als ich merkte, dass ich mich immer weiter von meiner Mutter und somit vom Markt entfernte. Stärker und immer stärker wurde die Panik, bis ich mich in den Schmutz kniete und bitterlich zu weinen anfing.

Ich werde gestoßen, getreten und auch versehentlich angerempelt während jeder eilig nach seinen Koffern greift, seine Kinder an sich drückt und vergeblich darauf wartet, dass die große schwere Tür aufgezogen wird, die uns wieder das Tageslicht schenkt.
Auch ich bücke mich, um meinem Mantel aufzuheben, in den ich das Brot und wenige Wasser welches in der Feldflasche für ein schwappendes Geräusch sorgt, eingewickelt hatte.

Unruhig stehen wir da und warten vergeblich auf das erlösende Knacken des Schlosses, welches uns die Freiheit schenkt und als es endlich ertönt, werde ich um ein Haar niedergetrampelt, doch der überraschend kräftige Griff der Alten, bewahrt mich vor dem Sturz.
Dankbar schaue ich ihr in die Augen, was sie mit einem kurzen nicken abtut.
Als ich einen Blick zu den jungen Eltern werfe, sehe ich, dass sich einige Männer schützend um sie gestellt haben, damit weder der Frau noch dem Kind etwas zustoßen kann.

Meine Lungen saugen gierig die frische und eisige Luft ein, die durch die geöffnete Waggontür ins Innere flutet und mir augenblicklich die Tränen in die Augen treibt.
Wachmänner ausgestattet mit Waffen flankieren den Durchgang und packen sich die jungen Männer die kaum älter als zwanzig sein können und führen sie von uns anderen weg. Schnell teilt man uns Frauen und Kinder in eine Mehrheit unter, die sie dann in die Richtung eines flachen Gebäudes treiben. Ich recke unaufhörlich den Hals und sehe mich immer und immer wieder um, doch von Emilia und Mama fehlt jede noch so kleine Spur. Das einzige was mir auffällt, sind die vielen bauten die wie ausgedörte Bäume in der Landschaft stehen. Als ich spüre wie eine knochige Hand nach meiner greift zucke ich zusammen und folge dem Arm, bis ich in das Gesicht von Frieda sehe die mich lächelnd ansieht. Unter anderen Umständen hätte ich meine Hand aus ihrer befreit, weil ich es gar nicht leiden kann, wenn man mich einfach anfasst. Aber in genau diesem Moment ist es tröstlich und spendet halt. Auch wenn ihre Finger die Temperatur von Eiszapfen haben. Auch wenn ihre Finger sich seltsam klein und dünn in meiner anfühlen. Es ist tröstend.

Ich drücke ihre Finger mit meinen, als die Soldaten uns lautstark dazu auffordern durch das Gitter in das graue Gebäude zu gehen. Der Strom an Menschen ist schier gewaltig und durch die dunklen Farben die wir tragen erinnert es an schmutziges Seewasser.
Seewasser, welches normalerweise still steht und durch nichts als den leichten Wind in Bewegung geraten kann.

Wir werden durch einen langen Gang gedrängt und durch eine weitere Stahltür in einen großen leeren Raum geführt. In ihm ist es beinahe kälter als draußen weshalb ich mich fröstelnd in meinen Mantel kuschle.

»Na los! Zieht euch aus und bereitet euch für die dusche vor!«, brüllt einer der Wachmänner laut, als sich der Raum immer weiter füllt.

»Hast du gehört? Habe ich es dir nicht gesagt? Wir dürfen uns waschen und anschließend bekommen wir auch bestimmt etwas neues zum anziehen, Rahel!«, sagt Frieda und quetscht glücklich meine Finger die sich nach wie vor in ihren Händen befinden.

Duschen. Wir dürfen duschen? Wasser, egal ob kalt oder warm. Kostbares klares Wasser, welches den Schmutz von mir spülen wird. Wasser.
Mein Mund war noch nie zuvor so trocken wie in diesem Moment. Wasser.
Trinkwasser. Duschwasser. Aber vor allem Wasser mit dem ich meinen Mund füllen kann, bis es überläuft. Wasser das mir die Kehle hinunterfließen wird und die Wüstenlandschaft in mir aufweichen wird. Wasser.

»Na los Rahel! Worauf wartest du?«, drängt Frieda während sie sich ihr Kleid über den Kopf zieht und nur noch im Unterhemd vor mir steht. Langsam schaue ich mich um und sehe die vielen Frauen und Kinder, die inzwischen weitaus spärlicher bekleidet sind als Frieda. Ich verstehe in diesem Moment nicht wie sie alle keine Scham empfinden können, doch mein verzweifelter Wille nach Wasser ist entschieden stärker als die Haut, die ich freilegen werde. Immerhin sind wir alle Frauen und Mädchen. Was die Frauen haben, werde ich eines Tages auch besitzen. Ich schaue auf meine relativ flache Brust hinunter und luge dann verstohlen zu Frieda, die sich nun auch das letzte Kleidungsstücke auszieht und achtlos auf den Boden wirft. Selbst sie hat mehr vorzuweisen als ich, denke ich seufzend und ziehe mich auch schnell aus, falte meine Kleidungsstücke jedoch ordentlich, damit ich sie später immer noch mitnehmen kann.

Als eine Tür plötzlich aufgezogen wird und der Wachmann von vorhin in der Tür steht, kreischen alle im Raum laut auf und bedecken ihre nackten Leiber so gut es geht, doch er schreit nur, dass wir in den Nebenraum laufen sollen.

Mir ist es mit einem Schlag egal ob er mich sieht. Ich will Wasser.

Diesmal bin ich es die nach Friedas Hand greift und sie glücklich hinter mir her ziehe. Ich bereue meine anfängliche Skepsis. Wohin hätte man uns sonst treiben sollen?
Wir werden uns waschen, umziehen und essen. Genauso wie Frieda gesagt hat.

Doch als wir in den Nebenraum treten, sehen wir, dass wir nicht alleine sind.

Männer. Überall Männer. Alle nackt.

Schreien erfüllt die Luft, ich werde erneut gestoßen, ich taumele gegen die Wand und erblicke im nächsten Moment die Wasserdüse direkt über meinem Kopf. Eine Wasserdüse. Zum duschen. Zum trinken.
Glücklich schließe ich die Augen und recke mein Kinn in die Höhe und öffne den Mund.

Wasser. Wasser. Wasser.

Showering in Gas Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt