Step 2 - Forcing a Neighbour (1)

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Bringe jemanden dazu, dass er sich gezwungenermaßen im Unterricht neben dich setzt, und verliebe dich dann in ihn. (Alternativ kann auch ein enges und tiefes Band der Freundschaft geknüpft werden. Man muss ja nicht gleich übertreiben!)

Living the Dream. Das waren die Worte, die ich – dieses Mal auf einem schönen Notizblock statt auf einer Serviette – in Schnörkelschrift über meine Liste gesetzt hatte. Die Liste selbst hatte ich tief in einer meiner Schreibtischschubladen vergraben, sie aber im Laufe der letzten Tage immer wieder rausgekramt, während ich versucht hatte mich auf ein erstes Erlebnis festzulegen. Nach intensivem Studium weiterer amerikanischer Teeniefilme hatte ich mich dafür entschieden, die Mission ›Gezwungener Sitznachbar‹ zuerst anzugehen. In Filmen ist es schließlich immer so, dass die Protagonistin neben jemandem sitzen muss, den sie kaum kennt, und sich daraus dann eine epische Liebe oder Freundschaft entwickelt. Da es sich in den meisten Fällen um Liebe handelt, war dies auch mein bevorzugtes Ergebnis dieses Schrittes.

Aus diesem Grund saß ich nun mit pochendem Herzen und wippendem Fuß in meinem Mathekurs und wäre vor Aufregung beinahe explodiert, als es zum zweiten Mal schellte. Es fühlte sich an, als würde ich seit langer Zeit zum ersten Mal wieder richtig atmen können. Seit dem Unfall hatte ich besonderen Wert darauf gelegt, mich immer an die Regeln zu halten, aber heute? Der heutige Tag könnte so viel Unerwartetes für mich bereithalten! Erwartungsvoll richtete ich meinen Blick auf die Tür, durch die gerade die letzten Schüler an ihre Plätze huschten. Der Mathekurs war für meine Zwecke perfekt geeignet. Zum einen begann er zur ersten Stunde, was dazu führte, dass regelmäßig Leute verschliefen und zu spät kamen, und zum anderen waren hier die Plätze genau abgezählt, so dass kein einziger frei blieb.

Ich saß in der hintersten Reihe am Fenster und war schon viermal gefragt worden, ob der Platz neben mir noch frei sei. Ich hatte jedes Mal verneint. Meine beiden besten Freundinnen, die in der zweiten Reihe saßen, drehten sich immer wieder zu mir um und schüttelten verwirrt die Köpfe. Aber nicht umsonst hieß dieser Trick gezwungener Sitznachbar. Wenn sich jemand freiwillig neben mich gesetzt hätte, wäre es einfach nicht dasselbe gewesen.

Es gab noch zwei freie Plätze, als Herr Beckmann das Klassenzimmer betrat. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen und stellte fest, dass Zachery Martinez und Justin Braun noch fehlten. Letzterer war eigentlich keiner der üblichen Zuspätkommer und saß normalerweise neben seinem Zwillingsbruder Dustin. Ja, die zwei hießen wirklich Justin und Dustin. Was Eltern von Zwillingen sich bei so etwas dachten, das würde für mich wohl auf ewig ein Mysterium bleiben. Dustin saß etwa in der Mitte und warf immer wieder Blicke zur Tür, was mich vermuten ließ, dass Justin noch erscheinen würde. Vielleicht war er kurz auf dem Klo verschwunden. Ich beugte mich hinunter, um unter Dustins Tisch zu spähen, und entdeckte dort tatsächlich auch Justins Tasche. Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus, denn damit war klar, dass Zachery Martinez, den alle bloß Zach nannten, mein gezwungener Sitznachbar sein würde.

»Frau Benz, was tun Sie da auf dem Boden?«

Das Grinsen verflüchtigte sich so schnell wie mein Vater, wenn meine Mutter auf die Idee kam, dass es Zeit war, mal wieder ihre Schlagermusik aufzulegen. Die Klasse kicherte vor sich hin, während ich mich langsam aufrichtete. Meine Freundin Hannah warf mir von ihrem Platz in der zweiten Reihe aus einen erheiterten Blick zu. Mit ihren roten Locken und den Sommersprossen erinnerte sie mich jedes Mal an Pippi Langstrumpf. Ich hatte sie auch in diesem Jahr wieder angefleht an Karneval mit geflochtenen Zöpfen und Ringelsocken zum Zug zu kommen, aber sie weigerte sich konsequent. Na, vielleicht würde ich im nächsten Jahr mehr Glück haben. Zur Not würde ich diesen Plan auch ohne ihre Einwilligung durchziehen. Die Welt brauchte Pippi Langstrumpf, ob Hannah wollte oder nicht.

Ich blickte hoch und sah, dass auf Herrn Beckmanns Stirn eine Ader pulsierte. Er wartete noch immer auf meine Antwort.

»Ich habe meinen Stift fallen lassen«, sagte ich mit möglichst unschuldiger Stimme.

»Und wo ist dieser Stift jetzt, wenn ich fragen darf?«

»Ja, Sie dürfen fragen. Um genau zu sein, haben Sie mich ja schon etwas gefragt.« Die Ader pochte noch heftiger. Ich ließ mich davon jedoch nicht beirren, denn ich war eine hervorragende Lügnerin. Der Trick dabei war, bis zum bitteren Ende auf der ursprünglichen Geschichte zu beharren. Ihr kennt sicher die Gerüchte, dass Lügner sich früher oder später in ihrem eigenen Lügennetz verfangen, oder? Nun, das konnte natürlich passieren, selbst mir, aber im Normalfall war mein Gegenüber von meiner Entschlossenheit so verunsichert, dass es irgendwann aufgab.

»Wenn ich wüsste, wo der Stift ist, dann würde ich ja nicht danach suchen«, fügte ich also noch hinzu.

Herr Beckmann verdrehte die Augen, beließ es aber dabei und wandte sich wieder der Tafel zu. »Wer von Ihnen kann mir sagen, an welcher Stelle die Population am stärksten ansteigt?«

Dazu musste ich doch nicht anfangen zu rechnen. Das hatten wir in Sozialwissenschaften durchgenommen: In bildungsfernen Schichten. Irgendwie hatte ich allerdings das Gefühl, dass Herr Beckmann von dieser Antwort nicht allzu begeistert sein würde.

Es klopfte an der Tür und Justin Braun steckte den Kopf herein. »Entschuldigen Sie, Herr Beckmann, aber die Sitzung der Schülerzeitung hat länger gedauert als erwartet.«

»Das ist kein Problem, Justin. Setz dich einfach.«

Wisst ihr, worüber die Schülerzeitung mal wirklich berichten sollte? Darüber, dass die Lieblinge der Lehrer geduzt wurden, während ich bloß Frau Benz war. Dabei war ich in Mathe wirklich gut. Um genau zu sein war ich im letzten Jahr nur knapp an einer Zwei vorbeigeschrammt. Tatsache ist allerdings, dass ich im Unterricht nie aufpasste. Mal im Ernst, ich hatte doch besseres zu tun als die x-te Ableitung einer Funktion auszurechnen, die sich irgendein alter Sack ausgedacht hatte, um uns Schüler zu quälen.

Bevor Herr Beckmann weitermachen konnte, flog die Tür erneut auf, dieses Mal ohne das höfliche Klopfen. Ich richtete mich auf meinem Stuhl auf, drapierte meine blonden Haare so, dass sie mir über die rechte Schulter fielen und schlug die Beine übereinander. Zachery Martinez betrat den Raum und ich war wirklich begeistert von der Auswahl, die der Zufall für mich getroffen hatte. Für diese Aktion hätte es gar keinen besseren Kandidaten geben können als Zachery. Das rabenschwarze Haar fiel ihm in die Augen, die Muskeln zeichneten sich deutlich unter dem engen Shirt ab und die Lederjacke machte den Eindruck des Draufgängers geradezu perfekt. Und doch war er ein Außenseiter. Das hing vor allem damit zusammen, dass Zachery Martinez sich seinen Mitschülern gegenüber meist wie ein Arschloch verhielt.

Ohne das kleinste Wort der Entschuldigung schlurfte er auf meinen Tisch zu, ließ sich auf den Platz neben mir fallen und kippte mit dem Stuhl so gegen die Wand, dass er den Kopf dort abstützen konnte. Herr Beckmann setzte kurz zu einer Ermahnung an, besann sich dann aber offenbar eines Besseren und fuhr stattdessen ohne Kommentar mit dem Unterricht fort.

Ich muss gestehen, ich hatte mir nie viele Gedanken über Zachery gemacht. Natürlich hatte ich wie jedes andere Mädchen des Robert-Koch-Gymnasiums bemerkt, dass er extrem gut aussah. Aber es kursierten Gerüchte, dass er nachts die Straßen unserer schönen Stadt mit einer Gang unsicher machte und deshalb jeden Morgen so müde aus der Wäsche schaute. Schlafzimmerblick nannten es die meisten Mädchen gern. Ich allerdings fand, dass er einfach aussah, als sei er auf Drogen.

»Willst du vielleicht ein Foto machen, damit du dir meinen Anblick noch besser einprägen kannst?«, murmelte Zachery leise und warf mir einen langen Blick zu.

Normalerweise wäre ich jetzt wütend geworden und hätte ihm erklärt, dass er mal ganz dringend sein Selbstbild anpassen sollte, aber heute ging es darum, Dinge anders zu machen als normalerweise. Es war schließlich nicht das Ziel der Living the Dream-Liste, dass ich meinen gezwungenen Sitznachbarn vergraulte. Also setzte ich mein schönstes, harmlosestes Lächeln auf und sagte mit zuckersüßer Stimme: »Nein, geht auch so. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis.«

Living the Dream. Liebe kennt keinen PlanDär berättelser lever. Upptäck nu