„Na gut. Ich weiß nicht, ob Clara es dir schon erzählt hat, aber Tim und ich sind sozusagen Halbbrüder. Wir haben ein-und-denselben Vater, aber unterschiedliche Mütter. Wir wohnen alle in einem Haus, Meine Eltern und Tim. Am Samstag wollten wir wirklich kommen, aber unser Vater hatte einen Autounfall und musste ins Krankenhaus. Deswegen konnten wir nicht kommen", schloss er seine Rede.

Also, damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Ich brachte nur ein leises „Oh" heraus.

„Und was ist mit seiner Mutter?", fragte ich vorsichtig.

„Sie...sie hat sich umgebracht, als sie erfahren hat, dass ihr Mann meine Mutter geschwängert hat. Sie hat sich von der Autobahnbrücke gestürzt. Tim hat sie nie wirklich kennengelernt. Er war ja noch ein Baby. Er ist zwar ein Jahr älter als wir, aber erst mit sieben Jahren in die die Schule gekommen. Hast du jetzt Antworten auf alle deine Fragen?"

Verlegen nickte ich. Es war gemein, ihn so genau über seine Familie auszufragen. Ich entschuldigte mich noch bei ihm und wir fingen endlich an, Mathe zu lernen.

Es war viertel vor acht und man konnte die Spannung im Klassenzimmer spüren.

Zehn Minuten später betrat Herr Nebel das Klassenzimmer mit einem Stapel Blätter unter den Arm geklemmt. Seine Stirn war wie immer gerunzelt und seine runde Brille saß tief unten auf der Nasenspitze.

„Guten Morgen! Ich werde jetzt sofort austeilen die Blätter, damit ihr die ganze Stunde Zeit für Schulaufgabe habt", erklärte er uns gab uns die Blätter.

Oh Gott, war ich aufgeregt. Ich hatte nicht alle Themenbereiche gelernt, nur etwa die Hälfte.

Was ist, wenn er genau die Hälfte dranbringt, die ich nicht gelernt habe? Was soll ich meiner Mutter sagen? Sie wird ganz bestimmt enttäuscht von mir sein, weil ich doch so viel gelernt habe.

Auf den Gongschlag genau gab er das Kommando und wir durften anfangen zu schreiben.

Bereits bei der ersten Aufgabe standen viele Fragezeichen über meinem Kopf. Also widmete ich mich der zweiten Aufgabe, aber die wurde auch nicht besser.

Anscheinend ging es Nico auch nicht besser, den er versuchte möglichst unauffällig zu mir rüber zuschauen.

Ich beachtete ihn nicht weiter und schaute mir die dritte Aufgabe an. Endlich, genau das hatte ich gelernt und größtenteils sogar verstanden. Eifrig fing ich an zu schreiben. Auch die nächsten beiden Aufgaben konnte ich lösen.

Bei der letzten Aufgabe handelte es sich um eine Grundwissensaufgabe mit Maßstab.

Na super! Die brauche ich erst gar nicht zu versuchen!

Wenn ich auch nur das Wort Maßstab gesehen habe, war es bei mir vorbei. Den Maßstab hatte ich noch nie verstanden und werde ihn auch nie verstehen.

Da praktischerweise an der Wand links neben uns eine Uhr hing, schaute ich darauf, währen Nico im gleichen Moment versuchte bei mir abzuschauen.

„Nico und Lily! Muss ich euch noch einmal erklären, was der Sinn einer Schulaufgabe ist und warum man nicht abschauen darf?"

Bei der lauten Stimme von Herrn Nebel zuckte ich zusammen und als er mir und Nico das Blatt abnahm riss ich erschrocken die Augen auf.

Ich machte schon den Mund auf, um zu protestieren, ließ es aber lieber bleiben.

Eine viertel Stunde später klingelte es zur zweiten Stunde. Genervt erblickte ich Clara, die auf mich zu kam.

„Was war das denn? Hast du wirklich gespickt?", hackte sie nach.

„Nein, habe ich nicht! Ich wollte nur auf die Uhr schauen. Aber Nico hat von mir abgeschaut!"

Sie faselte noch irgendetwas, aber ich hörte nicht richtig zu, so sehr war ich in Gedanken versunken. Ich war so wütend auf Nico und gleichzeitig enttäuscht.

Mit gemischten Gefühlen musste ich mich schließlich auf den Unterricht konzentrieren. Als wüsste Nico, dass ich sauer auf ihn war erhielt ich fünf Minuten später einen Zettel von ihm:

In der Pause an der hinteren Eiche. Müssen reden. XOXO Nico

Ich beschloss kurzfristig nicht zu unserem Treffen zu erscheinen. Erst einmal werde ich mich in der hintesten Ecke vom Pausenhof verkrümeln und vielleicht ein bisschen heulen.

Als ich mit total verweinten Augen in meiner Ecke saß, sah ich plötzlich meine Schwester. Mit ihren rot-orangen Haaren stich sie einem sofort ins Auge.

Zielstrebig steuerte sie gerade auf mich zu. Lumi starrte sie mich besorgt an.

„Hey, Lily. Was ist denn passiert?"

Heulend erzählte ich ihr die ganze Geschichte von vorne bis hinten. Nach jedem Satz erschien eine Falte mehr über ihrer Stirn.

„ Immerhin habe ich die dritte und vierte Aufgabe geschafft, aber ob die richtig sind ist fraglich."

Nach dem ich geendet hatte schien sie nach zudenken. Plötzlich machte sie ein sehr verärgertes Gesicht.

„Er wollte sich also mit dir bei der Eiche treffen. Dann wollen wir in mal nicht länger warten lassen!", verkündete sie mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck.

Im letzten Moment konnte ich es ihr ausreden indem ich sagte, dass ich alleine zu ihm gehen und ihr danach alles erzählen würde. Noch immer etwas verärgert willigte sie schließlich ein.

Warum ist sie eigentlich auf einmal so nett zu mir? Das muss ich sie später unbedingt fragen!

Etwas zögernd steuerte ich nun die hintere Eiche an und sah ihn von Weitem schon. Als auch er mich erblickte hellte sich sein Gesicht auf.

„Ich dachte schon du kommst nicht mehr!", rief er und riss erschrocken die Augen auf als er meine verquollenen Augen sah.

Als Antwort nickte ich bloß kurz. Als schien er erst jetzt zu bemerken, was mit mir los war senkte er beschämt seine Augen.

Plötzlich war ich in Gedanken bei meiner besten Freundin Katie und bekam deshalb nicht mit, was er da redete. Als er mich vorsichtig an der Schulter antippte schreckte ich erschrocken aus meinen Gedanken hoch.

Nico wollte noch etwas sagen, doch der Gong unterbrach ihn und ich drehte mich rasch um und rannte ins Gebäude.

Nachdem ich die restlichen Schulstunden hinter mich gebracht hatte stieg ich zum ersten Mal nach einer Woche wieder zusammen mit Lumi in den Bus.

„Lumi? Warum warst du heute eigentlich so nett zu mir?", fragte ich sie.

„Naja, ich glaube, ich und Bunny waren ganz schön gemein zu dir. Sie wollte dir heute einen fiesen Streich spielen, da habe ich gesag, dass du meine Schwester bist und ich zu dir halten werde. Und weißt du was, sie hat es akzeptiert! Keine Ahnung wieso. Vielleicht, weil ich ihr einen ellenlangen Votrag darüber gehalten habe, was das Wort Familie bedeutet."

Lächelnd schaute sie mir in die Augen.

„Danke!", sagte ich und meinte es auch so.

Zu Hause merkte meine Mutter anscheinend sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte.

„Und wie war die Mathe Schulaufgabe?"

Nach diesen Worten konnte ich mich nicht mehr halten und brach zum zweiten Mal an diesem Tag in Tränen aus. Ich glaube so viel wie heute, habe ich noch nie in meinem Leben geweint.

Lumi verschwand gleich in unser Zimmer.

Noch einmal erzähle ich die ganze Geschichte von vorne. Die Reaktion meiner Mutter war verblüffend. Sie schimpfte nicht ein kleines Bisschen, sondern nahm mich in den Arm und drückte mich fest an sie.

Nach dem Mittagessen verzog ich mich für den Rest des Tages ebenfalls in unser Zimmer und chattete mit meinen Freunden.

Auch Nico schrieb mir ein paar Nachrichten, doch ich antwortete nicht. Dabei wusste ich noch nicht einmal genau, warum ich so sauer auf ihn war.

Lilys Leben - meine Geschichte Where stories live. Discover now