In der Küche empfing uns ein herrlicher Duft von frisch gebratenem Speck und Rührei. Lucy saß bereits am Tisch, während Joana noch vor dem Herd stand. Sobald wir den Raum betraten, lächelte sie uns fröhlich an. "Guten Morgen, ihr beiden. Gut geschlafen?" Obwohl es nur auf die zweite Hälfte der Nacht zutraf, nickte ich. "Ja, vielen Dank." Harry sagte gar nichts, stattdessen ging er zu einem Schrank und holte Gläser hinaus. "Orangensaft, Lizzy? Oder lieber was warmes?", fragte er mich kurz darauf. "Nein, Orangensaft ist super.", antwortete ich und nahm ihm eines der Gläser ab. Die Karaffe mit dem Orangensaft stand auf dem Tisch. Ich wollte gerade danach greifen und mir etwas einschenken, als mir jemand anderes zuvor kam. "Ich mach das schon.", murmelte Harry und füllte mein Glas. Ich drehte mich in seine Richtung um mich bei ihm zu bedanken. Keine sonderlich gute Idee, denn er sah mich ebenfalls an. Blitzschnell wandte ich mich wieder ab, doch nicht schnell genug, um der sich erneut aufbauenden Elektrizität zu entgehen. "Setz dich doch neben mich.", schlug Lucy in diesem Moment vor. Dankbar lächelte ich sie an und ging um den Tisch herum. Harry würdigte ich dabei keines weiteren Blickes. Es war mir ein Rätsel wie ich den Rest des Wochenendes in seiner Nähe überstehen sollte. Obwohl ich ihn nicht ansah, hörte ich wie er seinen Stuhl zurückschob und gegenüber von mir Platz nahm. Seinen auf mir ruhenden Blick spürte ich ebenfalls. Zum Glück leistete Joana uns kurz darauf mit gefüllten Tellern Gesellschaft. Sie war es auch, die die Unterhaltung in Gang setzte. Sie fragte mich einige Dinge über die Kurse, die ich an der Uni belegt hatte. Harry aß nur schweigend sein Rührei und auch als wir etwas später über Lucys Schule sprachen, beteiligte er sich nicht am Gespräch. Doch diese schweigsame Seite an ihm kannte ich ja bereits. Als wir schließlich wieder auf die Uni zu sprechen kamen, fasste ich einen ziemlich kurzfristigen, aber vermutlich notwendigen Entschluss. Auf Joanas Frage, ob wir schon jetzt viel zu tun hätten, nickte ich und sagte: "Ja, verdammt viel. Deshalb muss ich wahrscheinlich auch schon heute Abend wieder zurückfahren... ich hab noch einige Arbeit offen, die ich morgen abgeben muss." Sonderlich viele waren es nicht, doch ich brauchte Abstand von Harry. Nicht weil er sich in irgendeiner Form falsch verhalten hatte. Es ging mir viel mehr um einen rein physischen Abstand. In seiner Nähe konnte ich einfach nicht klar denken und ich wusste absolut nicht woran das lag.

Offensichtlich hatte Harry nicht mit diesem Entschluss meinerseits gerechnet, denn er verschluckte sich an seinem Getränk, was in einem starken Hustenreiz endete. Joana klopfte seinen Rücken, bis er sich wieder beruhigt hatte. Dann sagte sie: "Oh, wie schade... aber das geht natürlich vor..."

Wenig später hatten wir alle aufgegessen. Sobald Harry und ich die Küche verlassen hatten, griff er nach meinem Arm und zog mich ziemlich unsanft hinter ihm her. "Harry, lass mich los. Du tust mir weh!", beschwerte ich mich. Sofort lockerte sich sein Griff etwas. Er ließ mich jedoch erst los, als wir sein Zimmer erreicht hatten. Dort schob er mich zu seinem Sofa und stellte sich mit verschränkten Armen vor mich. "Du erzählst mir jetzt sofort, was dein Vater dir angetan hat.", verlangte er. Automatisch wurde mein ganzer Körper von Gänsehaut überzogen. Ich hatte es ihm versprochen. Und er verdiente die Wahrheit. Trotzdem dauerte es mindestens eine Minute, bis ich einen Ton herausbrachte. Solange sah Harry mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

"Meine... meine Therapeutin hat versucht mir zu helfen, darüber zu reden.", begann ich stockend. "Aber wirklich gut bin ich darin nicht." Harrys Miene entspannte sich. Er nahm neben mir Platz und griff nach meiner Hand. "Versuch es einfach. Ich hör dir zu.", versicherte er mir. Langsam nickte ich. "Meine Mutter ist Kellnerin. Sie hatte schon immer furchtbare Arbeitszeiten... oft musste sie die ganze Nacht durcharbeiten. Sie hat in einem Hotel gearbeitet, da brauchten die immer jemanden. Mein Vater war arbeitslos. Als ich kleiner war, hat er dann meistens auf mich aufgepasst... aber irgendwann war er immer seltener Zuhause. Mich hat das nicht sonderlich gestört. Allerdings hat er die Zeit, die er unterwegs war, nicht wirklich produktiv genutzt. Meistens saß er den ganzen Tag lang in irgendwelchen Bars und hat all unser Geld für Alkohol oder Glücksspiele ausgegeben. Mitten in der Nacht kam er dann Hause. Ich hab mich fast immer schlafend gestellt. Als ich jünger war hatte ich regelrecht Angst vor ihm. Am nächsten Morgen war er wieder nüchtern. Also ich er wieder losgegangen, um das zu ändern. Meine Mutter hat ziemlich schnell Wind davon bekommen, obwohl ich ihr nicht gesagt habe. Sie hatte schon genug Sorgen. Und auch als sie es herausgefunden hat, konnte sie nicht wirklich etwas dagegen unternehmen. Manchmal, wenn sie etwas gegen sein Verhalten gesagt hat, ist er sogar gewalttätig geworden. Bis vor etwa einem Jahr ist es mir ziemlich gut gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen. Nur ein einziges Mal bin ich unten im Wohnzimmer eingeschlafen. Aufgewacht bin ich erst wieder, als er nach Hause kam. Zuerst habe ich gehofft, dass der Alkohol ihn so müde gemacht hatte, dass er sofort einschlafen würde. Ich wollte nach oben gehen, ihn im Wohnzimmer alleine lassen. Aber... das hat er mir nicht erlaubt." Ich verstummte. Durch den Traum in der letzten Nacht, sah ich den ganzen Abend viel zu genau vor meinen Augen. "Er... er hat mich festgehalten. Verlangt, dass ich... nett zu ihm bin. Und dann hat er angefangen mich auszuziehen." Harrys Augen weiteten sich. "Er hat was?" Jegliches Blut schien aus seinem Gesicht zu verschwinden. Dafür festige sich der Griff um meine Hand. "Bitte rede weiter, Lizzy.", flüsterte er. Langsam schüttelte ich den Kopf. "Kannst du dir nicht denken, was danach passiert ist?" - "Dein eigener Vater?" Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Dieses Mal nickte ich. "Mein eigener Vater."

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