Mein Name in der Glaskugel

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Je mehr ich über den heutigen Tag nachdenke, desto panischer werde ich. Schließlich stehe ich auf und ziehe mich an. Die Ernte beginnt erst später, sodass ich noch ein wenig Zeit für mich habe. Leise, um meine Eltern nicht zu wecken, schleiche ich die alte Holztreppe hinunter und weiche den Brettern aus, von denen ich weiß, dass sie knarren. Unten angekommen, werfe ich mir meine alte Wildlederjacke um und ziehe mir Stiefel an. Dann gehe ich nach draußen. Eine Notiz lasse ich meinen Eltern nicht da. Die fehlende Jacke wird ihnen alles über meinen Aufenthaltsort sagen. Vor der Türe weht mir bereits der milde Frühlingswind durchs Haar. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und atme tief durch. Anschließend eile ich los, zum wohl wichtigsten Ort meines Lebens. Dem Wald. Dort bin ich gerne. Obwohl es verboten ist, ihn zu betreten und Todesstrafe darauf steht, dort zu wildern, tun meine beste Freundin Katniss, mein bester Freund Gale und ich es trotzdem jeden Tag. Der Wald ernährt uns und gibt uns eine Auszeit vom grauen Alltag in Distrikt Zwölf , wo hungern auf dem Tagesprogramm steht. Durch eine kleine Lücke im Zaun, der eigentlich rund um die Uhr unter Strom stehen sollte, klettere ich hindurch. Die meisten Bewohner hier fürchten den Wald, da dort Raubtiere und auch Schlangen beheimatet sind. Bei einem umgestürzten, hohlen Baum, bleibe ich stehen. Ich bücke mich und hole den kostbarsten Gegenstand heraus, den ich besitze. Meinen Bogen, den Katniss mir vor einigen Jahren geschenkt hat. Zusammen mit einem ledernen Köcher und einem Dutzend Pfeilen. Plötzlich tippt mich jemand von hinten an. Erschrocken fahre ich herum. "Katniss!" Meine beste Freundin lächelt mich an . "Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken." "Schon gut." Ich lächle ebenfalls und reiche ihr ihren Bogen plus Köcher. "Ist Gale auch schon hier?", fragt sie. "Nein. Ich bin alleine. Aber es ist ja auch noch sehr früh." "Ja.", sagt Katniss und ihre Miene verfinstert sich. Ich seufze. "Wir werden dieses Jahr nicht gezogen. Versprochen." Katniss sieht mich an. "Nächtes Jahr ist Prim zwölf. Dann kommt sie ebenfalls zur Auswahl." Primrose Everdeen. Katniss Schwester und die Person, die sie am meisten hier auf der Welt liebt. "Prim... Prim wird nicht drankommen. Genauso wenig, wie wir. Okay?" Katniss nickt. "Okay." Sie schultert ihren Köcher. "Jetzt lass uns jagen gehen. Ich wäre froh mal auf andere Gedanken zu kommen." "Ganz deiner Meinung.", murmle ich. "Dann lass uns mal loslegen." Gemeinsam machen wir uns auf den Weg weiter in den Wald hinein.

Nach einer langen und erfolgreichen Jagd, kehren wir zum Zaun zurück. Katniss teilt die Beute unter uns auf. Jeder bekommt 2 Kaninchen und einen Beutel voll Katniss - Knollen. Dazu jeder noch einen Fisch. "Ich bringe Gale Beute. Danach gehe ich auf den Hob.", sagt Katniss. "In Ordnung.", erwidere ich. "Ich gehe jetzt auf den Hob und mache mich dann für die Ernte fertig." Wir umarmen uns kurz. "Wir sehen uns dann auf dem Platz.", murmle ich. "Ja. Bis dann." Katniss nickt mir nochmal kurz zu und verschwindet dann durch die Lücke im Zaun. Ich klettere ihr hinterher und gehe mit meiner Beute zum Hob. Eigentlich müssten mich die Friedenswächter, die zur Kontrolle des Distrikts aus dem Kapitol kommen, für die Wilderei erschießen, doch sie essen so gerne frisches Fleisch, dass sie immer ein Auge zudrücken.

Auf dem Hob sind Katniss, Gale und ich für unser Fleisch berühmt. Früher hatte ich Angst vor den dunklen Gestalten, die sich hier herumtreiben, aber mittlerweile sind viele davon gute Kunden. So dauert es nicht lange, bis ich ein Kaninchen gegen einen großen Laib Käse und die Hälfte der Katniss - Knollen gegen Garn getauscht habe.

Auf mein Klopfen hin, öffnet meine Mutter die Tür. Sie lächelt mich an. "Hallo Schatz." Sie wirkt gelassen, doch an ihrer Stimme höre ich, wie viel Angst sie vor heute hat. Kurz nimmt sie mich in den Arm. Normalerweise hätte ich mich aus ihrer Umarmung befreit, aber heute lasse ich es zu. Nachdem sie mich wieder losgelassen hat, schließt sie die Tür. Ich gehe in mein Zimmer und durchsuche meinen alten Schrank nach meinem Erntekleid vom letzten Jahr. Es ist schlicht und grün. Eilig wasche ich mich, ziehe mich um und lasse zu, dass Mutter mir einen Zopf flicht. "Du siehst toll aus.", murmelt mein Vater, der in der Küche steht, dumpf. "Danke Vater." Ich versuche selbstsicher zu wirken, doch das gelingt mir nicht, denn in diesem Moment ertönt eine Art lautes Hupen. Jeder hier in Zwölf weiß was das heißt. Alle Bewohner sollen sich auf dem großen Platz zur Auslosung treffen. Ich schlucke einen Kloß im Hals hinunter. Mein Vater klopft mir beruhigend auf die Schulter. "Wir müssen jetzt los."

Der große Platz ist wie jedes Jahr völlig überfüllt. Die Kinder zwischen zwölf und achtzehn Jahren sind in ihre Altersgruppe eingeteilt. Die Jungs links von der Tribüne aus und die Mädchen rechts. Ich stehe zwischen mehreren Mädchen meiner Altersgruppe. Katniss, die nur ein Viertel Jahr älter ist als ich, neben mir. Mit ausdruckslosem Gesicht starrt sie auf die Tribüne auf der drei Podeste stehen. Auf dem links und rechts befinden sich Glaskugeln. Eine mit den Jungennamen und eine mit den Namen der Mädchen. Ich sehe zu Katniss, dann suche ich mit den Augen die Umgebung nach meinen Eltern ab, die irgendwo hinten in der Menge stehen. Gale nickt uns von der Jungsseite aus, beruhigend zu. Ich lächle schwach. Da kommen Leute auf die Bühne. Vier Friedenswächter gefolgt von unserem Bürgermeister und zwei weiteren Personen. Effie Trinket. Sie kommt aus dem Kapitol und ist die Betreuerin der Tribute aus Zwölf. Sie trägt eine grüne, wirklich hässliche Perücke und strahlt die Menschenmenge an. Der Mann ganz hinten ist Haymitch Abernathy. Letzter Sieger aus Zwölf und der Mentor für die Tribute aus unserem Distrikt. Er gewann vor Jahren die 50sten Hungerspiele. Seitdem ist er ein Trinker. Ich bezweifle, dass er den Tributen je eine wirkliche Hilfe war. Er ist fast immer betrunken. Auch heute. Doch zumindest sieht er dieses Jahr so aus, als würde er noch das Ein oder Andere mitbekommen. Nicht so wie im letzten Jahr. Da war er sturzbesoffen und gröhlte ständig herum. Der Bürgermeister und Haymitch nehmen ihre Plätze ein. Effie geht vor an das Podest in der Mitte, an dem ein Mikrofon angebracht ist. "Willkommen!", ruft sie durchs Mikrofon. "Willkommen, willkommen! Fröhliche Hungerspiele und möge das Glück stets mit euch sein!" Katniss und ich wechseln einen Blick. Mein Herz rast wie wild. "Wie immer habe ich euch einen Film aus dem Kapitol mitgebracht!", flötet Effie. Ihre widerlich gute Laune, angesichts des bevorstehenden, brutalen Spektakels, macht mich wütend.

Der Film scheint eine halbe Ewigkeit zu dauern. Er erzählt von den dunklen Tagen und der Entstehung des neuen Panem und der Hungerspiele. Es kommt mir vor als hätte ich Stunden dagestanden und auf die große Leinwand gestarrt. Irgendwann beginnt Effie wieder zu sprechen. "Nun ist es an der Zeit einen mutigen jungen Mann und eine mutige junge Frau auszuwählen, die die Ehre haben, Distrikt Zwölf bei den diesjährigen, dreiundsiebzigsten Hungerspielen zu vertreten!" Sie sieht erwartungsvoll in die Runde. Ich spüre, wie sich Katniss neben mir verkrampft. "Gut nun wollen wir mal!", ruft Effie. "Ladies first!" Langsam, fast wie in Zeitlupe, schreitet sie zur Glaskugel mit den Mädchennamen. Ich atme tief durch und schiebe meine Hand in die von Katniss. "Du wirst es nicht.", hauche ich ihr zu. Katniss drückt meine Hand fest. Effie zieht einen Zettel aus der Glaskugel und stolziert zurück zum mittleren Podest. In aller Ruhe streicht sie den Zettel glatt. Auf dem Platz ist es totenstill. Jeder hält den Atem an. Effie blickt kurz auf, um die unerträgliche Spannung zu steigern. Dann senkt sie den Kopf und liest den Namen vor: "Lauriss Redfield!"

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