NINE

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♫ Namika - Lieblingsmensch
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Zum Glück kann ich gerade noch den letzten freien Platz in dem kleinen Café in Soho ergattern. Noch bevor das Pärchen, das kurz nach mir eintritt, ihn mir streitig machen kann. Ich kann nachvollziehen, dass sie sich nun ärgern, als der junge Mann sich darüber bewusst wird, dass ich ihnen den letzten freien Tisch vor der Nase weggeschnappt habe. Denn sowohl das Frühstück, als auch die Speisen auf der Mittagskarte, die überschaubare Kuchenauswahl, die selbstgemachten Smoothies und die Heißgetränke sind hier einfach göttlich. Doch ich empfinde kein Mitleid, vielmehr triumphiere ich innerlich über den kleinen Sieg, den ich errungen habe.

Ich mache es mir unbeirrt in der Ecke auf der Sitzbank bequem, ziehe mir Jacke und Schal aus, denn die Morgenstunden sind inzwischen wieder kühler geworden. Zu meinem Leidwesen, denn ich bin ein Sonnenkind, liebe den Sommer, kann zwar auch dem Frühling und dem Herbst etwas abgewinnen. Doch die Aussicht auf die Wintermonate, die wieder unwiderruflich näherrücken, drücken meine Stimmung erheblich. Kälte ist einfach nicht mein Metier, ich brauche Sonne, um mich wirklich unbeschwert lebendig zu fühlen.

Während ich auf Jane und Felipe warte, mit denen ich hier in unserem absoluten Lieblingscafé verabredet bin, sehe ich nachdenklich aus dem Fenster. Drücke geistesabwesend das bordeauxrote Kissen an meine Brust, das auf der Sitzbank neben mir liegt und beobachte eine Mutter mit ihren beiden Kindern, die versucht ihr Kleinstes zum Weitergehen zu animieren. Trotz minutenlangem Zureden will es sich partout nicht erweichen lassen, bleibt lieber weiter bockig und versucht seine Mama in die entgegengesetzte Richtung zu ziehen. Die Szene ist schlicht widersprüchlich zu meinen Gedanken, die wieder in komplett andere Gefilde abdriften. Gedanken, in denen Harry erneut die Hauptrolle einnimmt, und von meinem stürmischen Abgang gestern handeln.

Heute gestehe ich mir ein, dass ich nicht einfach Hals über Kopf hätte abhauen sollen. Doch gestern erschien es mir noch als die einzige, scheinbar vernünftige Option, die mir in jenem Augenblick in den Sinn gekommen ist. Ich habe egoistisch gehandelt, ihn einfach liegen lassen, mitten auf dem Paintballfeld, als hätte ich mit ihm nichts zu schaffen.

Er ist die letzte Person, der ich einen Vorwurf machen kann. Ihn trifft keine Schuld, nicht einmal Mitschuld, obwohl doch ein klein wenig schon, denn schließlich ist es seinem Sturz geschuldet, dass mich das Gefühl von Sorge um ihn überwältigt und unverhofft von den Füßen gerissen hat. Es hat mich regelrecht flutwellenartig überrollt, sodass ich keine Zeit mehr besessen hatte, diese plötzliche Empfindung im Keim zu ersticken. Wiederum bin ich wohlgemerkt irgendwie für seinen Sturz verantwortlich gewesen. Also trifft ihn vermutlich doch keine Schuld. Argh.

"Alex, Schätzchen", grüßt Felipe mich und zerrt mich damit abrupt wieder in die Gegenwart zurück. Mit Jane im Schlepptau steuert er zielstrebig auf unseren Tisch zu.

"Hey", gebe ich als Begrüßung zurück.

Felipe fackelt nicht. Noch ehe Jane und er überhaupt Platz genommen haben, kommt er ohne Weiteres zur Sache: "Damit wir uns direkt richtig verstehen, ich will alles wissen, bis ins kleinste Detail", verkündet er und durchbohrt mich mit seinem dunkelbraunen Augenpaar. "Was hast du angestellt, Prinzessin?"

Jane und ich tauschen einen vielsagenden Blick, und um ihre Mundwinkel spielt ein amüsiertes Grinsen, das ich ohne zu zögern erwidere. Ich weiß exakt, was ihr durch den Kopf geht. Felipe und seine forsche, direkte Art, bei der man aber immer zu einhundertprozent sicher weiß, woran man bei ihm ist.

"Natürlich", entgegne ich meinem besten Freund, ohne Einwand zu erheben. Ich würde sowieso gegen seine Gabe, die Wahrheit aus Menschen herauszukitzeln und dabei, wenn er will, unerschütterlich hartnäckig zu bleiben, einstecken müssen. Außerdem habe ich ohnehin vorgehabt, ihnen die Fakten offen auf den Tisch zu legen.

20 Dates ▪ H.S. [SLOW UPDATES]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt