Mörder

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„Tana kommst du bitte, du hast einen Brief.", ertönt Annes Stimme, sobald die Kellertür geöffnet wird. Allein der Gedanke daran, wieder Harrys Handschrift sehen zu können und mit den Fingerspitzen die Linien der Tinte nachzufahren, lockt das Mädchen aus ihrer dunklen Ecke. Ihre knöchrigen Finger krallen sich an die Ziegelsteine, aus der die Wand besteht, und steht langsam auf. Der Mangel von Nahrung macht ihrem Körper sehr zu schaffen, noch kaum hat sie die Energie dafür, sich viel zu bewegen.

Tana setzt einen Fuß vor den anderen, geht an ihrer Familie vorbei, deren Augen alle auf ihr liegen. Um ihren Bauch vor den Blicken zu verbergen, schlingt sie ihre Arme um diesen. Ihrer Mutter steht die Traurigkeit wegen ihres Kindes förmlich ins Gesicht geschrieben und Abigail muss sich die Tränen verkneifen. Sie kann und will Tana nicht so gebrochen sehen. Auch in Joels Augen spiegelt sich Trauer, denn schließlich ist sie noch immer seine Tochter, die er großgezogen hat und mit allem was er hat liebt. Beinahe steht er auf, um sie in eine feste Umarmung zu ziehen und ihr zu sagen, dass alles wieder gut werden würde. Denn der Mann weiß, dass Tana dies gut gebrauchen könnte.

Doch Zewi hält ihn zurück mit einer Hand auf der Schulter. Der Sohn schüttelt seinen Kopf und lässt seinen Blick wieder zu seiner Schwester gleiten. Diese steigt, mit dem Rücken zu ihm gewandt, langsam die Treppen hoch. Ihm entgeht nicht, wie sie sich krampfhaft an das Geländer klammert aus Angst davor, zu stürzen. Gerade, als er wieder auf die Decke, die ihn vor der Kälte schützt, schaut hört er ein Krachen. Zewi reißt seinen Kopf hoch, nur um zu sehen, wie Tana auf den Treppen liegt, ihr ganzer Körper scheint leblos.

Obwohl er Verachtung gegen sie hegt, springt er schnell auf und rennt zu ihr. Der junge Mann nimmt zwei Stufen auf einmal, bis er direkt neben ihr steht. Er beugt sich hinunter und fragt vorsichtig: „Geht es dir gut?"

Der Bruder legt eine Hand auf Tanas Schulter, doch das Mädchen schreckt von ihm weg. Sie schlägt auf seinen Unterarm und zischt: „Fass mich ja nie wieder an. Ich brauche dein erbärmliche Hilf nicht."

Mit aller Kraft, die sie noch in ihrem Körper hat, richtet sie sich auf und steht wenige Augenblicke später wieder auf beiden Beinen. Als wäre sich nicht noch vor Kurzem gestürzt steigt sie weiter die Treppen hinauf und lässt Zewi hinter sich. Anne, die das Geschehnis mitangeschaut hat, schüttelt verzweifelt ihren Kopf. Noch immer hofft sie, dass eines Tages der Hass, den Tana gegen ihren Bruder hegt, verblasst. Aber so, wie sich das Mädchen gerade verhalten hat, könnte es noch lange dauern, bis endlich wieder Friede zwischen den Geschwistern herrscht.

„Wo ist der Brief?", fragt Tana, ganz außer Atem durch das Treppensteigen. Sie streckt ihre Hand in Annes Richtung aus und der Mutter entgeht nicht, wie ihr Gegenüber zittert. Ihre Arme verschränkend antwortet Anne: „Du bekommst ihn erst, wenn du etwas gegessen hast. Gemeinsam mit Zewi."

Der Bruder drängt sich schnell und unachtsam an seiner Schwester vorbei, welche er im Vorbeigehen schubst. Zu schwach, um diesen Rempler im Stehen zu ertragen, fällt Tana gegen die Tür und kann sich im letzten Moment noch an Anne klammern, bevor die die Treppen rückwärts hinunterfällt.

„Willst du mich umbringen?", ruft sie aufgebracht und stellt sich wieder auf. Behutsam wird das Mädchen von Anne zum Küchentisch geschoben. Die Mutter zieht einen Sessel nach hinten, damit Tana sich auf diesen setzen kann. Der dürre Körper nimmt Platz, die Wirbelsäule gekrümmt. Nervös spielt Tana mit ihren Fingern und starrt auf diese.

Vor den Geschwistern wird je ein mit Essen befüllter Teller hingestellt und Anne spricht mit gekünstelter Fröhlichkeit: „Guten Appetit, meine Lieben!"

Auf einer Seite des Tisches klirrt schnell das Besteck gegen das Porzellan des Tellers und Zewi schlingt hungrig das Essen hinunter. Doch Tana hebt nur langsam eine Hand, um die Gabel zwischen ihre Finger zu bekommen. Lustlos sticht sie in das Gemüse und führt es zu ihrem Mund. Genau zwölfmal kaut sie bevor sie den zu Brei gewordenen Kartoffel hinunterschluckt. Schon beinahe angewidert verzieht sie ihren Mund, isst dennoch weiter.

„Schmeckt es dir nicht?", fragt Anne und setzt sich auf den dritten Sessel am Küchentisch. Sie stützt ihre Ellbogen auf der Holzplatte ab und legt ihren Kopf in die Hände. Schnell schüttelt Tana ihren Kopf und murmelt: „Es ist hervorragend, doch ich habe keinen Hunger."

Zewi spürt Zorn in sich aufsteigen und er legt das Besteck weg. „Wenn du so weiter machst, wirst du verhungern.", raunt er während er sich leicht über den Tisch in die Richtung seiner Schwester lehnt.

Diese blickt schnell auf und nimmt noch eine Kartoffel in ihren Mund, damit sie noch Zeit zum Überlegen, was sie am Besten sagen soll, hat. Zwölfmal kaut sie und schluckt wieder, nimmt einen Schluck von dem Wasser, das in einem Glas neben dem Teller steht. Schließlich kontert sie: „Tu nicht so, als würdest du dich für mein Wohlergehen interessieren. Das widert mich an."

„Auch, wenn es für dich aussieht, sorge ich mich noch -", beginnt Zewi, sich zu verteidigen, doch wird schnell von einer schreienden Tana unterbrochen: „Du hast mein Baby umgebracht, du Monster!"

Alarmiert steht Anne auf und legt eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes, um diesen zu beruhigen. Doch er steht langsam auf und lehnt sich über den Tisch. Drohend zeigt er mit einem Zeigefinger auf seine Schwester und raunt: „Beginn' ja nicht schon wieder damit. Es war eine Fehlgeburt, niemand kann etwas dafür.

Tana springt so plötzlich auf, dass ihr Sessel nach hinten umkippt. Ihre Fingernägel krallen sich in den Unterarm ihres Gegenübers, überraschenderweise hat sie noch Kraft in ihren Fingern, wodurch Zewi schmerzerfüllt die Luft einzieht.

„Wenn du mich nicht andauernd gedemütigt hättest und mich in Ruhe gelassen hättest, würde ich jetzt schon ein wunderbares Baby in meinen Armen halten. Doch du musstest so verdammt gehässig sein, hast mich unter enormen Stress gesetzt. Während der Schwangerschaft sollte man keinem Stress ausgesetzt sein.", redet das Mädchen auf ihren Bruder ein, ihre Augen sehen ihn eindringlich und voller Hass an.

Erschöpft stützt Tana sich auf dem Tisch ab und wiederholt: „Du bist ein Mörder."

„Und du hast mit einem Deutschen gevögelt, das macht dich auch nicht besser.", zischt Zewi und stürmt zu der Tür, die in den Keller führt. Ohne sich noch einmal umzudrehen, steigt er die Treppen hinunter und verschwindet aus Annes Blickfeld. Diese seufzt und dreht sich zu dem Mädchen.

Tana sitzt wieder seelenruhig am Tisch und zerkaut das Essen, als hätte sie ihren Bruder nicht vor wenigen Momenten als Mörder ihres Babys bezeichnet. Als hätte er ihr nicht an den Kopf geworfen, dass es genauso schlimm ist, mit Harry geschlafen zu haben. Der Gedanke an ihren Geliebten beruhigt sie.

Anne nimmt ebenfalls wieder an dem Tisch Platz und sieht dem Mädchen beim Essen zu. Als der Teller schließlich leer ist, beschließt sie, ihren Mund zu öffnen: „Willst du mit mir darüber reden? Das hilft meistens."

Doch Tana steht nur auf, ihr Gesicht zeigt keinerlei Emotionen. „Gibst du mir jetzt bitte den Brief?"

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