1. Straight outta Spandau

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POV Max

Die Sonnenstrahlen eines Nachmittags Anfang August schimmerten durch die Fenster und tauchten die Straßen Spandaus in eine goldgelbe Decke. Mein Blick fiel von unserem Wohnzimmerfenster im zweiten Stock raus auf die Aussicht, welche vor mir lag. Ich sog jeden Augenblick davon auf, solange ich es noch konnte, weil ich so schnell nicht nach Spandau zurückkehren würde. Ein Umzug weg aus meiner Heimat, nach Hannover. In die Mitte vom Nirgendwo. Na toll. Mein bisheriges Leben, wie ich es kannte, gibt es ab morgen nicht mehr. Und das alles nur, weil mein Vater eine Affäre mit einer Jüngeren hat. Danke dafür.
Ich versuchte, diese negativen Gedanken abzuschütteln und konzentrierte mich wieder auf die Aussicht des Marktplatzes in der Altstadt. Instinktiv schloss ich die Augen und dachte über alles nach, was ich hier zurücklasse. Es wird mir alles fehlen. Seit ich denken kann, lebten meine Mutter, mein Vater und ich in dieser 4-Zimmer-Wohnung mitten in der Altstadt Spandaus. Das ist meine Heimat. Der Ort, an dem ich mich am sichersten fühle, geborgen sogar, einfach meine Komfortzone. Vor meinem inneren Auge sah ich wieder den Weihnachtsmarkt vor mir, die Lichtermeere faszinierten mich schon immer. Die nahe gelegenen Spandauer Arcaden waren ein super Treffpunkt für mich und meine Freunde, der ein oder andere Nachmittag ging beim Saturn oder in der Eisdiele drauf. Hinter der Altstadt war das Wahrzeichen Spandaus, die Zitadelle. Über die Brücke drüber, schon war man auf dem Gelände. Als Kinder spielten wir dort gerne Verstecken, als Teenies verbrachten wir dort eher die Sommernachmittage beim Ausspannen im Park. Ja, trotz meiner Pollenallergie liebte ich es in den Grünflächen um die Zitadelle.
Das alles war Vergangenheit von nun an. Ich hätte bestimmt noch weitere Erinnerungen rausgekramt, wenn meine Mutter mich nicht in diesem Moment aus dem Träumen herausgeholt hätte. „Max?", hallte ihre Stimme durch die leere Wohnung. Mit Wehmut sah ich mich ein letztes Mal um, entfernte mich vom Fenster und murmelte leise „Spandau, Spandau, wir leben hier". Jetzt fehlte nur noch der Regen, um den Moment der Trauer abzurunden. Ich schritt ein letztes Mal durch mein altes Zuhause. Es war ein komisches Gefühl, dass mein gesamtes materielles Leben in bruchsicheren Kartons verpackt in einem weißen Möbelwagen vorm Haus steht. So richtig konnte ich das noch nicht wahrnehmen und es wird sicherlich noch eine Weile dauern.
Ein letztes Mal drehte ich mich um, ehe ich über die Schwelle trat und unsere Nachbarin eine Tür weiter die Tür hinter mir ins Schloss zog. Während meine Mutter sich noch mit ihr unterhielt, setzte ich mich im Treppenhaus auf die Stufen. Ich wäre gerne in Spandau oder in näherer Umgebung geblieben. Irgendeinen Bezug zum Umfeld von Berlin hätte ich mir gewünscht, aber meine Mutter wollte einen kompletten Neuanfang. Nicht mal Oranienburg war weit genug weg. Da kam der Aufbau einer neuen Zweigstelle in Hannover gerade recht. Eine Option wäre natürlich gewesen, dass ich zu meinem Vater und seiner neuen Freundin ziehe. Das kam aber für mich nicht in Frage. Er hat alles kaputt gemacht, weil er sich nicht zügeln konnte.
Naja, so muss es also ein Neuanfang sein. Vielleicht hilft er meiner Mutter. Vielleicht hilft er mir auch. Neuanfang heißt auch neue Möglichkeiten in der Liebe. Ja, ich bin noch jung und es kann noch viel passieren. Aber der Schmerz sitzt immer noch tief. Diese gottverdammte Klassenfahrt, dieser eine gottverdammte Abend hängt mir immer noch im Kopf. Wann komme ich endlich drüber hinweg? „Passt auf euch auf in der neuen Heimat, ja?", riss mich erneut eine Stimme – dieses Mal die unserer Nachbarin – aus meinen Gedanken. „Das machen wir, Regina.", erwiderte meine Mutter und umarmte unsere Nachbarin lange. Auch ich erhob mich von den Treppenstufen und reichte ihr die Hand. Plötzlich fand ich mich in einer Umarmung wieder. „Mach es gut, Max. Wir sehen uns ganz bald wieder." „Werden wir, Frau Büttner", entgegnete ich in der Umarmung. Unsere Haltung löste sich und ich folgte meiner Mutter die Treppen runter bis zum Umzugswagen. Sie setzte sich ans Steuer und ich mich auf den Beifahrerplatz neben sie. Sie startete den Motor und fuhr vom Parkplatz los, Richtung Autobahn. Im Rückspiegel und im Fenster sah ich Spandau am Horizont verschwinden, nach und nach löste sich das, was ich 17 Jahre lang kannte, in Luft auf. Zur Ablenkung schaltete ich das Radio ein. Wie passend, dass gerade „Trauerfeier Lied" von Alligatoah lief. An jedem anderen Tag würde ich über das Lied lachen, laut mitsingen, so wie immer. Doch heute war dem nicht so. Das Lied war heute mein Trauerfeierlied – für Spandau. Für mein bisheriges Leben, welches ab jetzt nicht mehr galt.
Als wir den Berliner Bären passierten und auf die Autobahn fuhren, stiegen mir Tränen in die Augen. Straight outta Spandau. Willkommen neue Welt.

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Hallo und herzlich willkommen zum ReWrite von „Salzsturm der Gefühle"! Wer die Hintergründe des Rewrites erfahren will, sollte Kapitel 0 nochmal lesen :)
Ich hoffe, euch gefällt der Start in die Neufassung. Falls ja, würde ich mich über ein Vote und ein Kommentar freuen!
Kapitel 2 folgt in Kürze. Bis dahin, fühlt euch gedrückt!
Kuss, eure Julia Melania

Salzsturm der Gefühle (#HandofBee) *Rewrite*Where stories live. Discover now