Flucht

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„Komm schon, Maria, hab auch mal Spaß! Jeder kommt heute Abend zu Toms Geburtstagsparty! Willst du als Einzige vom ganzen Jahrgang zu Hause bleiben? Sogar die Nerds werden da sein!"

„Mein Vater würde es niemals erlauben", schüttelte Maria den Kopf.

„Er muss es ja nicht wissen", zwinkerte Tina sie verschmitzt an. „Erzähl ihm einfach, du möchtest bei ein paar Freundinnen übernachten. Wir arbeiten zusammen an einem wichtigen Schulprojekt. Außerdem bist du jetzt 18. Eigentlich kannst du doch tun, was auch immer du willst."

„Du verstehst nicht ... I-Ich kann nicht ... wenn er es herausfindet ... Ich muss weg, ich muss zur Kirche!", stammelte Maria.

„Nimm dir mal eine Auszeit!", rief Tina ihr hinterher. „Ruf mich an, falls du es dir anders überlegst!"

Tina verstand es einfach nicht. Wie konnte sie auch?

Soweit sich Maria erinnern konnte, waren die Augen ihres Vaters jedes Mal voller Hass, wenn sich ihre Blicke kreuzten. Sie verstand nie, wieso, bis ihre Mutter sich eines Tages mit ihr hingesetzt und ihr erklärt hatte, dass sie bei der Geburt fast gestorben wäre. Sie hätte um ein Haar ihre eigene Mutter getötet.

Dann waren da noch ihre dunkelroten Haare. Die meisten Leute wollten es gar nicht glauben, aber es war tatsächlich ihre natürliche Haarfarbe. Maria sah ihren Eltern kein bisschen ähnlich und auch sonst niemandem in der Familie.

Ihr Vater glaubte, sie sei vom Teufel geküsst. Ein Dämon, der der Hölle entsprungen war und als Mensch wiedergeboren wurde. Ihre Mutter hatte Maria versichert, dass sie von ihrem Vater geliebt wurde, doch Maria wusste es besser. Er hielt sie für ein Monster.

Und er wurde in seiner Überzeugung bestärkt, als Marias Mutter krank wurde. Maria war 15 gewesen. Sie war mit ihrer Mutter im Supermarkt einkaufen, als ihre Mutter plötzlich meinte, dass es ihr nicht gut ging. Sie gingen zu einem Arzt, der bei ihr Krebs diagnostizierte. Ein halbes Jahr später war sie tot.

Für Marias Vater bestand danach keinen Zweifel mehr, dass Maria aus der Hölle gesandt wurde. Er wollte sie umbringen. Er wollte sie zurück in die Hölle schicken. Doch er tat es nicht, weil seine Frau ihn an ihrem Sterbebett angefleht hatte, sich um sie zu kümmern. Also erfüllte er ihren letzten Willen, mehr oder weniger.

Seitdem wurde Maria mehrmals ausgepeitscht, in Eisbäder getaucht und von sogenannten Priestern aus der ganzen Welt exorziert. Ihr Vater hatte sie einmal in eine Abstellkammer eingesperrt, wo sie fast an einer Mischung aus Weihrauch und brennendem Salbei erstickt wäre.

„Warum tust du das?", hatte sie ihn schluchzend gefragt.

„Damit ich dich nicht töten muss", hatte er ihr geantwortet und er schien aufrichtig zu glauben, dass er das Richtige tat.

Einmal hat er ihr alle Haare abrasiert. Sie wurde von allen ausgelacht, als sie so zur Schule ging. Mittlerweile waren ihre roten Haare wieder vollständig nachgewachsen. Sie band sich ihre glatte lange Mähne gerade zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen.

Maria hatte vor einem Jahr mit ihrem Vater eine Art Waffenstillstand geschlossen. Sie benahm sich wie die brave Tochter, die sie zu sein hatte. Sie ging regelmäßig mit ihm zur Kirche, betete jeden Tag zu Gott und las auch täglich in der Bibel. Sie kleidete sich züchtig und war stets darauf bedacht, ihre Narben zu verstecken. Um ihren Hals trug sie immer das schlichte silberne Kruzifix ihrer Mutter.

Sie lernte ständig fleißig für die Schule, damit sie gute Noten bekam. Sie hielt Jungs auf Abstand, die ihr näher kommen wollten. Sie hielt sich von Alkohol und Drogen fern. Sie gehorchte ihrem Vater ohne Wenn und Aber. Sie bemühte sich unaufhörlich, ihrem Vater keinen Grund zu geben, sie bestrafen zu wollen.

ABGEBROCHEN! Kissed By The DevilWhere stories live. Discover now