2. Kapitel oder das mit dem Wettkampf

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 (ehemals "2. Kapitel")

Wenn mich jemand fragen würde, wie die ersten Tage auf Black Johns Schiff waren, würde ich sagen, dass das, was hier passierte alle Grausamkeit, die ich je gesehen hatte bei weitem übertraf.

Denn so geschah es, dass ich am Morgen des nächsten Tages an Deck kam und buchstäblich über drei Leichen stolperte. Ihre Kehlen waren aufgeschlitzt, als hätte man sie auf grausamste Art und Weise verbluten lassen, damit sie möglichst viel Leid erfuhren. Dann waren da, wo die Augen der Männer sein sollten nichts als blutige, schartige Löcher. Der Geruch von Verwesung und verbranntem Menschenfleisch stieg mir in die Nase und mir wurde schlecht. Ich rannte zu Heck und übergab mich über die Reling. Widerlich. Es war einfach widerlich. Der Anblick der drei Männer hatte sich in meinem Gehirn festgesetzt und ich war mir sicher, ich würde ihn nie vergessen. Wer tut so was? Ich meine, wer ist so verrückt und tötet Matrosen des Schiffes, auf dem er sich selber befindet? Es war einfach unbegreiflich für mich.

Die kommenden Tage begannen im selben Muster: man fand Tote, schmiss sie von Bord und segelte weiter über die Unendlichkeit des blauen Ozeans, immer auf der Suche nach einem neuen Schiff, das man gefahrlos kapern konnte. Und dann, am fünften Tag meines Dienstes unter Black John entdeckte ich die erschreckende Wahrheit: Jeder der Toten hatte auf dem alten Handelsschiff gedient, was bedeutete, dass ich oder vielmehr meine Leiche die nächste werden würde, die am Morgen auf dem Deck liegen würde. Meine oder die des anderen Schiffsjungen, der sich als erster entscheiden durfte Black John, dem Schrecken der Karibik, zu dienen. Mit mulmigen Gefühl im Magen legte ich mich am Abend in meine Ecke unter Deck. Die Ecke war klein, düster und beinahe nicht sichtbar, es sei denn man wusste, dass sie dort war. Und auf diese Art der Unsichtbarkeit hoffte ich. Derjenige, der die anderen getötet hatte, hatte mich wahrscheinlich nicht gefunden, sondern erst die genommen und getötet, die schön erreichbar in seiner Nähe lagen und vor sich hin schnarchten. ‚Alles wird gut. Er wird dich nicht finden', sprach ich mir in Gedanken Mut zu. Aber trotzdem konnte ich das klamme Gefühl der Angst nicht wirklich ignorieren. Ich fröstelte. Meine Ecke war etwas zu zugig für meinen Geschmack und ich hatte lediglich ein altes, zerrissenes Tischtuch bekommen, in das in mich jeden Abend einwickelte, in der Hoffnung, die Kälte irgendwie zu vertreiben. Andere hatten Kissen und echte Wolldecken und schliefen in Hängematten. Ich hingegen teilte mein Tischtuch auch noch mit einer fetten Katze, die sich jeden Abend auf meine Füße oder meinen Bauch legte und mir entweder die Luft zum Atmen nahm oder die Füße plättete. Ich hatte die fette Katze, der eigentlich ein Kater war, ‚Kralle' genannt, weil er sich leidenschaftlich gerne in mein Tischtuch krallte und es noch mehr zerfetzte. Aber selbst der fetteste Kater gab Wärme ab und ich war froh, dass meine Heizung nicht ganz dünn war – an das Gewicht hatte ich mich nach den wenigen Nächten gewöhnt und schlief ein sobald der Kater auf mir lag und wachte morgens auf, wenn Kralle aufstand. Er wärmte mich und ich wärmte ihn. In der Hinsicht waren wir ein tolles Team, wenn man von der toten Ratte absah, die er mir geschenkt hatte.

Ich wachte auf, weil Kralle protestierend maunzte und sein Gewicht plötzlich von meinem Bauch verschwand.

„Verdammtes Viech!", knurrte eine männliche Stimme wütend. Ich horchte auf. Was wollte ein Mann von Kralle? Oder besser gesagt, was wollte er von mir? Mitten in der Nacht? Bestimmt nichts Gutes, da war ich mir sicher. Weiter kam ich mit meinen Überlegungen gar nicht, denn ich spürte plötzlich einen steckenden Schmerz in meinem rechten Bein. Ich wollte schreien vor Schmerz, aber ich konnte nicht, denn sobald der Mann merkte, dass ich wach war, stopfte er mir etwas in den Mund, was verdächtig nach alter, stinkiger Socke roch. Bah. Ich wollte spucken, ich wollte prusten und den widerlichen Geschmack aus meinem Mund bekommen. Ich wollte mich wehren, doch bevor ich auch nur den Arm heben konnte um den Mann zu schlagen, fuhr ein neuer Schmerz mein Bein hinab. Ich biss vor Schmerz und Qual in die Socke. Ein dunkles, gemeines, hämisches Lachen ertönte.

reina del mar - Die Königin der See | Unlektorierte LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt