Die Herausforderung

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Der Wind blies seine Haare aus der Stirn. Er hatte ihn endlich ausfindig gemacht, ihn, den großen Schülerdetektiv des Ostens, Shinichi Kudo. Seit er versucht hatte die Zeiger der Turmuhr zu stehlen, hatte er sich gefragt, wer dieser ominöse Helfer bei der Polizei gewesen war, der ihn außerdem beinahe geschnappt hätte. Durch ihn war Kaito Kid ganz schön in Schwierigkeiten geraten.
Kaito atmete leise aus. Er stieg von der Steinbrüstung auf den Balkon, schritt im Dunkeln zur Balkontür. Er hatte Glück, sie war wegen der starken Sommerhitze nur leicht angelehnt. Er stieß sachte dagegen.
Das Schlafzimmer war dunkel. In einer Ecke stand ein großer Kleiderschrank, in der Mitte befand sich ein Bett. Die Person, die darin schlief, wurde nicht wach, als Kid direkt vor ihrem Gesicht stand und sich hinhockte, um ihr ins Gesicht zu sehen.
Die widerborstigen dunklen Haarsträhnen fielen in die schmale Stirn, der große Brustkorb hob und senkte sich rhythmisch nach der Atmung. Die Augenbrauen waren angestrengt verzogen und die Lippen formten lautlos Worte.
Er träumt, dachte Kaito.
Aus der Dunkelheit blickten zwei himmelblaue Augen zu Kaito Kid auf. "Shit", entfuhr es Kaito, der sich schnell aufrichtete. Beide starrten sich an, der Schülerdetektiv Shinichi Kudo und der Meisterdieb Kaito Kid, Erzfeinde.
"Kaito Kid?!"
Kaito rannte auf den Balkon hinaus und schwebte mit seinem Gleiter davon.
Nur ein Briefumschlag blieb zurück.

Shinichi Kudo starrte ihn die eisblauen Augen seines Gegenübers. Der Mond warf weite Schatten auf die Rivalen.
"Kaito Kid..."
"Shinichi Kudo..."
Ein Lächeln schlich sich auf das Gesicht Kids.
"So sehen wir uns wieder, Tantei-san."
Shinichi lächelte nicht. Seine Züge waren ernst.
"Du hast mich schließlich herausgefordert, Kaito Kid."
"Nun, dann mal sehen, ob du Meiner würdig bist!"
Kaito Kid öffnete mit einer schnellen Handbewegung seinen Gleiter.
Shinichi Kudo zog einen Revolver aus seinem Jackett.
"Keine Bewegung, Kid!"
Kaito Kid stieß ein höhnisches Lachen aus, seine Selbstsicherheit war noch nicht verschwunden.
Die zwei Erzfeinde sahen sich im Mondlicht lange an, musterten einander, lächelten und warteten gespannt darauf, dass der andere einen Fehler beging.
Kid wirbelte herum und stieß sich vom Boden ab. Shinichi drückte ab.
Die Kugel streifte Kid an der Schulter. Blut spritzte über den Albinoumhang, besprenkelte auch seinen Hut und das Monokel. Das nächste, was Kid sah, war tiefes Schwarz, als er in die Tiefe stürzte. 

Er blinzelte. Shinichi sprang auf. Endlich zeigte Kid wieder ein Lebenszeichen. Kid drehte seinen Kopf zur Seite und kuschelte sich tiefer in das samtweiche Kissen. Shinichi musterte Kid, dann ging er in die Küche um eine Kanne Tee aufzusetzen. Als er aus der Küche zurückkam, saß Kid aufrecht im Bett. "Wo bin ich?" Shinichi lächelte. "Schön das es dir besser geht, Kid. Du bist hier in meinem Haus in Beika."
Kaito stutzte und sah zum Balkon hinaus. Tatsächlich, er erkannte die Gegend und das Haus gegenüber, das diesem komischen Professor gehörte.
Er sah wieder zu Shinichi hinüber. "Was ist passiert?" Shinichi wich Kids Blick aus und stellte das Tablett mit dem Tee auf die kleine Kommode neben dem Bett.
Kid folgte Shinichis Bewegungen, schließlich traf Himmelblau auf Eisblau.
"Du bist abgestürzt, Kid. Aber zum Glück nicht zu tief. Du bist auf einem Hausdach gelandet und hast jetzt nur ein paar Prellungen und Kratzer. Ich habe dich zu mir gebracht, um dich zu verarzten. Es freut mich wirklich, dass es dir jetzt besser zu gehen scheint."
Plötzlich verbeugte sich Shinichi vor Kid. "Es tut mir aufrichtig Leid. Entschuldige, dass ich auf dich geschossen und dich damit in Lebensgefahr gebracht habe."
Kid musterte Shinichis Erscheinung und Verhalten interessiert. Er hatte nicht mit einer Entschuldigung gerechnet, gestand er sich selbst ein.
"Ich nehme deine Entschuldigung an, Kudo."
Shinichi richtete sich erleichtert auf. "Ich danke dir, Kid. Und nun lass uns eine Tasse Tee trinken."
Shinichi füllte zwei kleine Tassen mit einer grünen Flüssigkeit und reichte sie Kid, der sie nickend annahm und vorsichtig daran schlürfte. Shinichi setzte sich wieder auf den Stuhl neben dem Bett und schluckte den Inhalt der Tasse in einem Zug hinunter. Dann drehte er die Tasse gedankenverloren in seinen Händen. Kaito schaute abwesend aus dem Fenster, dann wieder zu Shinichi, der ihn ansah. Kaito blickte Shinichi fragend an, der sich schnell wieder abwandte und die kleine Tasse erneut mit grünem Tee füllte.
Kaito fühlte sich plötzlich geborgen. Hier in diesem Bett, trotz der Schmerzen, die er in seiner rechten Schulter spürte und der ungewohnten Gegend. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, doch er verbarg es sofort wieder, indem er seine Tasse leer trank.
Shinichi bot ihm schweigend noch einmal Tee an.

In der gleichen Nacht bekam Kaito schweres Fieber. Er schwitzte und konnte keine Minute mehr ruhig liegen, seine Temperatur stieg und seine Wunde blutete stark. Shinichi hatte alle Hände voll zu tun, doch schließlich hörte mit Hilfe etlicher Medikamente und Verbandswechsel wenigstens die starke Blutung auf und Kaito beruhigte sich und atmete wieder ruhig. Die einzige Sorge, die Shinichi in den folgenden Tagen noch plagte, war das hohe Fieber, das nicht abnahm.
In der dritten Nacht, nachdem Shinichi alles ihm Mögliche getan hatte, und Kid sich noch immer unruhig im Bett wälzte, hauchte ihm Shinichi einen kurzen Kuss auf die verschwitzte Stirn. Als er auf das Gesicht des Meisterdiebes herabblickte, fragte er sich erschrocken, was er da gerade getan hatte und wich einen Schritt zurück. Er drängte den Gedanken beiseite, doch er wusste, er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Kaito Kid wieder gesund wurde.

Kaito schlug die Augen auf. Sein Kopf tat ihm weh, ebenso seine Schulter. Er hatte so gut wie keine Erinnerung an die letzten drei Tage und Nächte, nur verschwommene Bilder tauchten in seinem Kopf auf. Und eines davon war ein Shinichi, der ihn liebevoll ansah, nachdem er ihm einen Kuss auf die Stirn gehaucht hatte. Daran erinnerte sich Kaito ganz genau, er hatte keine Berührung gespürt, nur den Hauch eines Atemzugs. Er lag noch einige Minuten still da, dann richtete er sich langsam auf. Es war früh am Morgen und die Sonne warf helle Strahlen durch die Balkontür. Kaito erblickte mit Erstaunen, dass Shinichi neben ihm am Bett eingeschlafen war, die Arme lagen vor der Brust gekreuzt auf der Matratze, die Beine waren auf einem Stuhl zusammengesunken. Der Kopf ruhte auf den Armen. Kaito überlegte unschlüssig, ob er Shinichi nun wecken sollte oder ob er versuchen sollte noch einmal einzuschlafen.
Er entschied sich für Letzteres und wurde erst wieder vom klimpernden Geschirr geweckt. Shinichi lächelte ihn freundlich an und stellte das Tablett auf der Kommode ab.
"Guten Morgen."
"Guten Morgen", sagte Kaito und gähnte herzhaft. Shinichi kicherte.
"Wie geht es dir heute, Kid?"
"Besser. Vielen Dank." Kaito sah unsicher zu Shinichi hinauf. "Kann ich bitte etwas zu essen haben?"
Shinichi stutzte. "Oh, natürlich." Und er verschwand wieder in der Küche.
Wenig später servierte er Kaito ein bisschen Obst und ein bisschen Reis und Brot, welches dieser gierig hinunterschlang. Als er fertig war fühlte sich sein Magen nicht mehr flau an. Kaito bedankte sich abermals und trank in Gedanken versunken den ihm dargebotenen Tee.
Shinichi fragte besorgt: "Ist dir nicht gut, Kid?"
"Doch, doch. Ich frage mich nur, warum du nicht die Polizei gerufen hast, Kudo."
Er sah Shinichi fragend an. Dieser überlegte kurz, unsicher wie er seine Antwort formulieren sollte.
"Nun, ich wollte nicht, dass dich die Polizei verhaftet." Er sah Kid belustigt an. "Das wollte ich ganz alleine tun." Er lachte rau auf, bemerkte Kids ernstes Gesicht und hüstelte. Sie beide wussten, dass es noch einen anderen Grund gab.
"Ich meinte ... also ... Nun das stimmt zwar, aber ich wollte auch nicht als der Mörder von Kaito Kid dastehen. Außerdem wollte ich mich bei dir entschuldigen. Ich fühle mich schuldig, dafür dass ich dich angeschossen habe. Entschuldige." Er verbeugte sich kurz.
Kaito war zufrieden mit dieser Antwort. Er ließ das Thema auf sich beruhen und kurierte in den nächsten Tagen noch eine Erkältung aus. Vormittags war Kaito alleine im Haus von Shinichi Kudo, verhielt sich aber still und schlief meist bis zum Mittag. Wenn Shinichi am Nachmittag von der Schule zurückkam, aß er eine Kleinigkeit mit ihm und verbrachte den Rest des Tages lesend im Bett. Er hatte die große Kriminalbibliothek für sich entdeckt.

Himmelblau und EisblauWo Geschichten leben. Entdecke jetzt