Kapitel 46 - Hass und Tränen

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Am nächsten Nachmittag wurde Falrey nicht durch einen Tritt geweckt, denn er wachte vor Jaz auf. Er stand auf, trat ans Fenster und lugte zwischen den Vorhängen hinaus. Nach seiner Schätzung musste es mindestens Als sein, wenn nicht schon Epa. Er drehte sich um und sah, dass Jaz Stiefel säuberlich neben seinem Bett standen, der Umhang zusammengefaltet daneben lag und Jaz zugedeckt war. Emilas Werk, vermutete er. Er zog sich die Tunika über den Kopf und machte leise die Tür hinter sich zu, um Jaz nicht zu wecken. Dann ging er nach unten in die Küche.

Das Haus war wieder einmal verlassen. Er suchte sich etwas zu essen, dann setzte er sich auf die Bank und kaute gedankenverloren. Wobei nicht er in Gedanken verloren war, sondern seine Gedanken sich irgendwie in der Leere in seinem Kopf verloren hatten. Er dachte gar nichts. Oder besser gesagt, er dachte, dass er nichts dachte. Irgendwie verwirrend.

Er fühlte sich müde, obwohl es schon Nachmittag war und überlegte, ob er nicht einfach wieder hochgehen und weiterschlafen sollte. Allerdings kam ihm das irgendwie blöd vor. Andererseits – wer definierte was blöd war? War es unsinnig zu schlafen, wenn er müde war? Eigentlich nicht.

Er stand auf, trank einige Schlucke direkt vom Krug und stieg wieder die Treppe hinauf. Zu seiner Verwirrung lag Jaz nicht mehr im Bett und er war auch sonst nirgends. Wie konnte das gehen? Er war bestimmt nicht die Treppe hinunter gekommen, das hätte er gemerkt. Dann sah er die Leiter an der Wand lehnen und er verstand. Jaz musste aufs Dach sein, allerdings hatte er die Luke hinter sich wieder geschlossen. Falrey fragte sich, ob er ebenfalls hochsteigen sollte, aber er sagte sich, dass Jaz ihn geholt hätte, wenn er ihn dabei haben wollte.

Er trat ins Zimmer und liess sich auf seine Matratze fallen. Eine Weile lang lag er einfach nur da und starrte an die Decke ohne das Bedürfnis, etwas zu machen. Dann richtete er sich wieder auf und griff aus irgendeinem unbewussten Gedanken heraus zu seinem Rucksack, der in der Ecke neben der Matratze lag. Er hatte ihn nicht mehr angerührt seit dem ersten Tag nach seiner Ankunft, doch nun öffnete er ihn und legte seinen Inhalt säuberlich auf dem Boden aus: ein leerer Wasserschlauch, sein altes Schnitzmesser, ein Löffel, eine Wolldecke, eine Jacke aus einigermassen dichtem, dunklem Wachstuch, Feuersteine und Zunder in einer kleinen hölzernen Büchse, zwei Kerzenstummel, Nadel und Faden in einer weiteren Büchse, ein Stück Leder von etwa einem auf zwei Fuss und einen kleinen Lederbeutel.

Er strich über die einzelnen Sachen, Erinnerungen an sein Waldleben, vor allem aber an die lange Reise nach Niramun. Dann griff er nach dem Lederbeutel. Er zögerte, denn er wusste, wenn er ihn öffnete würde es schmerzhaft werden. Einige Atemzüge lang hielt er ihn reglos in den Händen, dann löste er den Knoten in der Schnur und zog die Öffnung des Beutels vorsichtig auseinander. Er griff hinein und zog das erste, was ihm in die Finger kam, heraus. es war ein kleines Stück Schilfpapier mit einem kritzligen Tintenbild darauf. Die Tränen kamen ihm sofort.

Schluchzend beugte er sich über das Fetzchen und bedeckte es mit der Hand um die Tinte vor den Tropfen zu schützen, die ihm über das Gesicht strömten. Verzweifelt biss er die Zähne zusammen und drückte sein Gesicht so hart gegen seine Knie, dass es wehtat.

Dann hob er das Papier hoch und betrachtete es genauer. Das Bild zeigte ein kleines Holzhaus mit einem spitzen Schilfdach. Ein Weglein führte darauf zu, an einem kleinen, eingezäunten Garten vorbei. Rechts lagen einige Felder, dahinter ragten die Bäume des Waldes auf. Im Türrahmen stand eine schemenhafte Gestalt, kaum mehr als solche erkennbar. Doch in Falreys Augen bekam das Bild Farben, Formen, Geräusche.

Er kauerte sich zusammen und schlang die Arme um die Knie, der Fetzen Papier entglitt seinen Fingern. Alles verloren, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Es wird nie wieder dein Zuhause sein. Hilflos schlug er in die Matratze und öffnete den Mund zu einem stummen Schrei. Es war so unfair. Wieso er? Wieso ausgerechnet er?! Wieso nicht Akar, oder Ikian, oder Marvel? Was kann ich denn dafür?, schrie er ihnen entgegen, all diesen Gesichtern, die ihn anstarrten.

Niramun I - NachtschattenWhere stories live. Discover now