~Prolog~

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Die Schmerzen der Einsamkeit und des Selbsthasses hatten sich mittlerweile in einen körperlichen Schmerz umgewandelt, als ich auf dem kalten Laminatboden meines Zimmers lag - meine leeren Augen starr an die weiße Decke gerichtet -, und mich fragte, wie lange ich jetzt noch leben würde.

Das nervige Brummen der Autos, das im Minutentakt meine Ohren erreichte, verfolgte mich noch selbst in der letzten Stunde meines Lebens und das Ticken des Sekundenzeigers war wie eine liebliche Melodie, die anscheinend das Letzte sein sollte, was ich hören würde. Die mich in den Tod begleitete, wie ein alter Freund, wobei ich sie als diesen, genau genommen, auch wirklich bezeichnen konnte. 

Das leise Ticken war immer das Einzige gewesen, was die unangenehme Stille im Haus unterbrach, nachdem meine Eltern sich wieder stundenlang angeschrien und mein Vater wutentbrannt das Haus verlassen hatte.

Welches das Schluchzen meiner Mutter übertönte, bevor sie mit geröteten Augen auf dem Sofa einschlief, die Ruhe nach dem Sturm einkehrte und das gesamte Haus in ein unangenehmes Schweigen zog.

Mein neunjähriges Ich hatte sich dann immer unter seiner Spiderman-Bettwäsche versteckt, versucht seinen zitternden Körper unter Kontrolle zu bringen und die Tränen wie ein tapferer Junge herunterzuschlucken.

Doch war ich noch nie tapfer gewesen.

Genau genommen war ich bis zum Ende meines Lebens ein Feigling gewesen, der immer weggelaufen war und nie den Mumm hatte, sich seinen Problemen zu stellen.

Kein Wunder, dass mein Vater, nach dem Tod meiner Mutter, zu einem noch gefühlskälteren Alkoholiker geworden war, bei der Schande, die ich ihm als Sohn bereitet hatte.

Ich war nie in irgendeiner Sache überdurchschnittlich gut gewesen, hatte immer nur annähernd befriedigende Leistungen erbracht und generell eine Neigung zum Versagersein.

Schon öfters hatte ich mich gefragt, ob er es bereute, mich gezeugt zu haben. Ob er sich einen Sohn wünschte, der wie die Jungs in meiner Klasse war: Groß, sportlich, intelligent, charismatisch, selbstbewusst und schlagfertig.

Bei dem »groß« könnte man sich streiten, aber von den restlichen Eigenschaften legte ich so gut wie keine an den Tag.

Meine grünen Augen wanderten fast schon reflexartig zu meinem Unterarm, der neben den kleinen Kratzern, die fast drei Monate alt waren, auch stärkere, stark blutende Schnitte aufwies, aus denen das Blut herausquoll und sich auf dem hellen Boden verteilte.

Schnell wandte ich meinen Blick wieder von der Sauerei, die ich selbst veranstaltet hatte, und konzentrierte mich erneut darauf, mich an mein kurzes Leben zu erinnern, wie es auch immer die sterbenden Personen in den übertriebenen Dramen taten, die meine Mutter vor ihrem Tod angeschaut hatte.

Wenn ich schon starb, dann wenigstens wie eine mehr oder weniger gut durchdachte Filmfigur, die von den Zuschauern immerhin noch Mitleid bekam. Vielleicht würde ich ja auch Mitleid bekommen?

Wobei sich die meisten Menschen wohl eher ein schadenfrohes Lachen verkneifen müssten, wenn sie von wem auch immer erfuhren, dass meine Wenigkeit, Harry Edward Styles, nun die Radieschen von unten betrachten würde.

Vielleicht gab es ein oder zwei, die der Höflichkeit halber ein »Oh mein Gott, wie schrecklich! Mein herzliches Beileid. Er war so ein guter Junge«, herausbringen werden, aber nach einer Woche wäre die Sache schon wieder gegessen.

Wo ich gerade so schön beim Thema »Er war so ein guter Junge« angekommen war, kam mir in den Sinn, dass ich ja tatsächlich, vor mehreren Jahren, jemand gewesen war, der sowas wie Freunde und ein wohlbehütetes Familienumfeld besessen hatte.

Ich erinnerte mich an die vierte Klasse, in der wir auf einen Zettel aufschreiben sollten, was unsere Wünsche und Träume für die Zukunft waren.

Ich wusste noch genau, was ich aufgeschrieben hatte: Eine tolle Familie, ein Haus, die obligatorischen zwei Kinder, eine liebevolle Ehefrau – und das Wichtigste – als Arzt in einem Krankenhaus zu arbeiten und Menschen zu helfen.

Notentechnisch hätte ich das sogar vielleicht noch hinbekommen, da ich in der Grundschule noch Klassenbester war und auch von den Lehrern ständig gesagt bekommen hatte, was für ein intelligenter und großartiger Junge ich doch sei.

Wie schnell sich ein Mensch doch ändern konnte.

Wer hätte ahnen können, dass dieser kleine, braunhaarige, immer gut gelaunte und lächelnde Junge jemals zu so einem seelischen Wrack werden könnte, das seinem erbärmlichen Leben, im Alter von fünfzehn Jahren, selbst ein Ende setzen würde.

Ein spöttisches Lächeln schlich sich auf meine Lippen, während ich meine Augen leicht schloss und meinen Blick von der Uhr gleiten ließ, die über meiner Zimmertür an der Wand hing und dessen Sekundenzeiger erneut eine seiner Runden auf dem Ziffernblatt vollendet hatte.

Meine letzte Minute hatte begonnen.

Und ich fühlte mich nicht schlecht oder bereute meine Tat. Nein, zum ersten Mal seit langem hatte ich das Gefühl, etwas richtig getan zu haben.

Zum ersten Mal in meiner Teenagerzeit war ich glücklich und fühlte mich vollkommen. War im Reinen mit mir selbst und wusste, dass eine Welt ohne mich, eine bessere Welt sein würde.

Ich fühlte mich leicht und unbeschwert, spürte, wie mir alle Lasten von den Schultern fielen, die ich all die Jahre tragen musste.

Leb wohl, Harry Edward Styles. Du wärst sowieso nur als erbärmlicher, einsamer alter Mann geendet, der nichts mit seinem Leben angefangen und nur in den Tag hineingelebt hätte.

Immerhin hast du eine Sache in deinem Leben richtig gemacht.

Die Vergänglichkeit des Unendlichen II Harry Styles Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt